Von der Lokomotive zur Atomkraft

Das Technische Museum ist beliebt bei alt - und vor allem bei jung: Direktor Peter Aufreiter sieht die Wiener Institution als "Erlebnis- und Diskursort", der aktuelle gesellschaftliche Debatten abbildet

von Peter Aufreiter, Direktor des Technischen Museums © Bild: Ricardo Herrgott/News

Das Büro des Direktors direkt unter dem Dach im fünften Stock mit spektakulärem Blick auf Schloss Schönbrunn gleicht einem Kuriositätenkabinett. Rechts neben der Eingangstür steht eine Lampe des Wiener Künstlerduos Mischer'Traxler. In einem großen Glaskolben befinden sich künstliche Insekten, die zu "fliegen" beginnen, wenn man sich nähert. In einer Ecke ein Stollwerck-Automat aus den 1950er-Jahren. Und nach dem Interview holt Peter Aufreiter einen Gegenstand aus dem Schrank, der ihm vor einiger Zeit anonym zugeschickt wurde: eine alte Mauser-Pistole mit Lederetui, ungeladen. Er werde sie "sicherheitshalber" der Polizei übergeben, sagt Aufreiter.

Wenn man das Technische Museum betritt, sieht man zuerst alte Dampfmaschinen und Lokomotiven. Wie viel Technik-Nostalgie darf heutzutage noch sein?
Ich habe bei meinem Antritt gesagt, dass ich weg will vom rein Historischen und hin zur umfassenden Aufarbeitung aktueller gesellschaftspolitischer Entwicklungen mit dem Ausgangspunkt der Geschichte. Ich wurde auch gefragt, in welchem Verhältnis ich das machen würde, und ich habe geantwortet, etwa 70 zu 30 oder 60 zu 40. Das ist es auch, was die Besucher wahrnehmen, wenn man sie fragt.

70 Prozent Geschichte, 30 Prozent Aktuelles?
So ungefähr. Ich war ja in gewisser Weise dankbar für die Pandemie-Schließzeiten, weil ich da tage- und wochenlang durch das dunkle Museum geschlendert bin und mir Dinge überlegt habe. Aus Kunstmuseen kommend muss ich sagen, ich habe wahrscheinlich unterschätzt, wie schwierig es ist, hier drinnen etwas zu verändern. Aus technischen Gründen und wegen des konzeptuellen Gusses des Museums. Ein Beispiel: Ich habe, seitdem ich da bin, zwei Lokomotiven rausschaffen lassen. Eine wird in einem anderen Museum gezeigt, eine ist im Depot verschwunden. Das kostet pro Lokomotive 50.000 Euro.

Warum kostet das so viel?
Es gibt nur zwei Firmen in Österreich, die das können. Man muss das Haus aufmachen, die Straße sperren und vielleicht sogar Oberleitungen abmontieren. Dann sind ganz besondere Tieflader im Einsatz, und man muss den Waggon eventuell sogar von der Achse heben und in Teilen transportieren.

Sie planen die erste Umgestaltung der Dauerausstellung seit 1999, das Thema Klimawandel soll einen festen Platz bekommen. Was kommt noch?
Wir werden den Bereich Schwerindustrie umbauen. Der ist momentan sehr metalllastig, was die aktuelle Situation in Österreich überhaupt nicht widerspiegelt. Stattdessen kommen Materialinseln hin. Eine Glasinsel, eine Lithiuminsel, eine Holzinsel usw. Und wir versuchen, in jedem einzelnen Bereich mit den relevanten österreichischen Unternehmen zusammenzuarbeiten. Das Projekt kostet zwei Millionen und wird Mitte 2024 neu eröffnet. Ebenfalls Anfang nächsten Jahres wird es den neuen Dauerausstellungsbereich zum Klimawandel geben. Und wir planen in Kooperation mit der Pharmig einen Pharmaschwerpunkt, um zu zeigen, wie die Pharmaindustrie wirklich funktioniert, aber auch, um die Pandemie aufzuarbeiten. Von Fake News bis Entwurmungsmittel.

»Wir versuchen nie, zu sagen, was sein muss, wir wollen Diskussionen anstoßen«

Wie positioniert man sich bei so umstrittenen Themen wie der Corona-Impfung?
Wie versuchen nie, zu sagen, wie etwas sein muss, wir wollen Diskussionen anstoßen. In letzter Zeit bekommen wir viele E-Mails, warum Nuklearenergie bei uns relativ kritisch dokumentiert ist. Das sei doch die einzige Zukunftslösung, um den Energiehunger zu stillen. Aber wenn man etwa nach Frankreich schaut, gibt es dort einen ganz anderen Zugang. Das aufzuzeigen und die Diskussion anzustoßen, ist das Erlebnis im Museum. Ich glaube, dass sich alle Museen, auch die Kunstmuseen, stärker in diese Richtung entwickeln müssen. Nur Objekte zu zeigen, wird zu wenig sein. Man muss Museen zum Erlebnis- und Diskursort machen. Ich finde, das Schönste ist, wenn die Besucherinnen und Besucher da unten zu diskutieren anfangen.

Mit "unten" sind die 22.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche und deren Besucher gemeint, die sich unterhalb Ihres Büros finden.
Genau. Aber Museum ist viel mehr als Besucherfluss oder was Sie sehen, wenn Sie durchgehen. Es gibt die Büros, eine Schlosserei, eine Tischlerei, eine Restaurierungswerkstatt, riesige Depots

Das Technische Museum ist bei Kindern und Jugendlichen besonders beliebt. Geht viel kaputt?
Alles, was geht, wird zerstört. Wir bieten das sogar Firmen an: Wenn ihr ein Produkt habt, von dem ihr wissen wollt, ob es in drei Tagen 10.000 Kinderhände aushält, dann stellt es uns her, und nach dem Wochenende können wir sagen, ob es massentauglich ist. Die Kinder kommen auf alle Ideen. Sie schmeißen hinunter, sie drehen dran, sie schrauben dran. Sie können auch jeden Computer hacken. Wenn wir einstellen, dass man nur auf eine bestimmte Seite kommt, ist das nach einer Stunde offen. Wir wissen nicht, wie.

Viele Menschen denken bei Museen an verstaubte Gegenstände in Vitrinen. Sind sie heute überhaupt noch zeitgemäß?
Ich glaube, sehr. Wir werden überrannt im Moment. Wir hatten letztes Jahr mit 436.000 Besuchern das absolute Rekordjahr seit Bestehen des Museums und haben heuer bisher aliquot gerechnet ein Plus von 50 Prozent. Die Leute wollen nach Corona hinaus, sie wollen etwas Neues machen. Und ich glaube, viele fahren wegen der Inflation weniger auf Urlaub und geben das Geld lieber zuhause aus. Aber wir merken, sie wollen es nicht digital. Wir haben seit zwei Jahren auch eine App, die sich noch nicht besonders gesteigert hat.

Es geht um das Erlebnis?
Wir haben in unserer neu eröffneten Ausstellung über den Frauenpavillon bei der Wiener Weltausstellung drei dicke alte Bücher liegen. Das sind Register, in die Wiener Findelkinder des Jahres 1868 eingetragen wurden. Es gab damals pro Jahr rund 8000 Findelkinder, unehelich geborene Kinder, die in Findelhäusern aufgenommen wurden. Wenn man darüber spricht oder ein Foto davon sieht, ist es eine Info. Wenn man aber vor diesen Büchern steht und ein Kreuz neben dem Namen eines Kindes sieht, das gestorben ist, erlebt man die Atmosphäre des Originals und kommt dieser Geschichte viel näher.

Viele Institutionen erleben eine schwere Vertrauenskrise. Es gibt immer mehr Menschen, die sich komplett zurückziehen und wissenschaftliche Erkenntnisse verweigern. Was kann eine Institution wie das Technische Museum in diesem Zusammenhang leisten?
Museen, vor allem öffentliche Museen, haben eine extrem hohe Seriositätswahrnehmung. Dort wird nicht gelogen. Wir sind nicht irgendein Internetforum, in dem jeder schreiben kann, was er will, sondern wir präsentieren überprüfte Fakten, auf die man sich verlassen kann. Dieses Vertrauen ist noch vorhanden, und es ist an dieses Haus gebunden. Man hat beispielsweise an den Diskussionen über das Heeresgeschichtliche Museum gesehen, dass es einen Aufschrei gibt, wenn man wichtige Themen nicht zeitgemäß und ständig erneuert kontextualisiert.

93 Prozent der Bestände des Technischen Museums lagern in irgendwelchen Depots. Sammeln sie trotzdem weiter?
Wir nehmen jedes Jahr ca. 500 Objekte neu auf, das ist für ein Museum relativ viel. Angeboten kriegen wir mehr als das Zehnfache. Wir nehmen auch Gegenstände auf, die einen Bezugspunkt zu Nachhaltigkeit aufweisen. Zum Beispiel haben wir Protestschilder von Fridays For Future gesammelt. Wir haben uns vorgenommen, zu sammeln, was in hundert Jahren noch relevant sein wird. Also müssen wir versuchen, das jetzt einzuschätzen.

Sie sind seit 2020 im Amt, haben sich jetzt um Verlängerung beworben. Welche Pläne haben Sie noch?
Mein Team hat mir verboten, noch Pläne zu haben. Ich bin aus Kunstmuseen gewohnt, dass nur eine von fünf oder zehn Ideen wirklich umgesetzt werden kann. Hier ist fast alles etwas geworden, weil wir das Glück hatten, Kooperationspartner zu finden. Trotzdem habe ich natürlich noch viele Pläne. Ich würde zum Beispiel gerne in dem kleinen Park neben dem Museum einen Wasserenergie-Park bauen und dort modellhaft Erfindungen zeigen, die es zwar gibt, die sich aber nicht durchgesetzt haben. Aufwindkraftwerke auf Hochhäusern zum Beispiel, die leider nur Sinn machen, wenn die Häuser mindestens einen Kilometer hoch sind.

ZUR PERSON
Der Kunsthistoriker und Germanist Peter Aufreiter startete seine Karriere im Sigmund-Freud-Museum und war anschließend für das Kunsthistorische Museum und das Belvedere tätig. 2015 übernahm er die Führung der Galleria Nazionale delle Marche in Urbino (Italien). Seit 1. Jänner 2020 leitet er das Technische Museum.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/2023.