Schuld und Sühne

Ein Steirer wird als Kind schwer misshandelt und später zum Mörder

Ein Mann will vom Staat als Opfer anerkannt werden. Doch er hat einen Menschen auf dem Gewissen. Warum österreichische Behörden trotzdem etwas gutzumachen haben. Eine Geschichte, die weh tut.

von Opfer und Täter - Schuld und Sühne © Bild: Illustrationen: Arnulf Rödler

Das vorletzte Mal, als sich Meinhard Lehner allein als Fahrgast in ein Taxi setzt, ist er zwanzig Jahre alt. Die Straße vor der Wiener Staatsoper versinkt im Schnee, Weihnachten steht kurz bevor, und die Sonne geht gerade auf. Meinhard heißt in Wahrheit ganz anders. Es ist ein althochdeutsches Kompositum, genau wie sein tatsächlicher Name, und bedeutet "Stärke und Härte". Daher passt der Name so gut für diese Geschichte.

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Eigentlich sind es zwei Geschichten.
Die eine beginnt um fünf Uhr morgens, als Meinhard schwer betrunken vor der Opernpassage steht.

Am Abend hat ihn seine Freundin vor die Tür gesetzt, er hat keine Bleibe mehr, eigentlich auch sonst nichts, nur ein gebrochenes Herz. Ein weißer VW Jetta fährt vor, darin ein 57-jähriger Taxler aus Wien-Simmering mit Schiebermütze und dicker Hornbrille. Er fährt ausschließlich Nachtdienste. Seine Kollegen nennen ihn liebevoll "Opa" wegen der Enkel, denen er so gern auf der Heimorgel vorspielt. Meinhard steigt ins Taxi, nimmt hinten Platz und zündet sich eine Zigarette an. In dieser Donnerstagnacht im Dezember 1986 wird der Bursche zum Mörder.

Bis heute weiß Meinhard nicht, wer seine Eltern sind. Ihm fehlt ein Stück Identität, sagt er, er kennt seine Wurzeln nicht, das fühle sich an wie ein weiß gebliebener Fleck in seinem Innersten. Wer soll man denn sein, wenn man nicht weiß, woher man kommt? Vom Vater hat er nie erfahren. Von der leiblichen Mutter immerhin den Namen, aber nicht, wie sie ihr Leben verbrachte. Einmal hat Meinhard sie gesucht, nach dem Gefängnis, aber sie wollte nicht reden. So wenig wie sie ihn überhaupt wollte. Damals, in dem kleinen Ort in der Südsteiermark, in dem die andere Geschichte dieses Mannes beginnt, die hier erzählt wird.

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Es hätte ein biblisch anmutender Start ins Leben werden können. Wie Moses, der im Alten Testament im Schilf ausgesetzt wird, gibt die Mutter ihr Baby frei. Sie legt es in einem Wäschekorb vor die Haustür einer alleinstehenden Frau, die sie flüchtig kannte. Heute hat Meinhard mit seiner leiblichen Mutter abgeschlossen. Seine Pflegemutter nennt er "diese Person". Oder "Monster". Bis ins Teenageralter hält er sie für seine richtige Mutter. Es hat ihm ja niemand die Wahrheit erzählt. Auch nicht, dass die Frau vorbestraft war und in den Fünfzigerjahren im Gefängnis saß. Drei Jahre "schwerer Kerker", steht in den Zeitungsberichten von damals, wegen Kindesmords. Sie hatte ihren Erstgeborenen nach der Geburt geknebelt und in den Mistkübel geworfen.

Die Unterlagen des zuständigen Jugendamtes, die News eingesehen hat, offenbaren, dass die Behörde von Anfang an darüber Bescheid wusste, als Meinhard offiziell als Pflegekind bei "Mutti" registriert wird.

Ins Nirgendwo

Das Taxi fährt los. Ratlos, welches Ziel er dem Fahrer überhaupt nennen soll, verharrt Meinhard auf der Rückbank, da hinten ist es warm, durch die Scheibe sieht er den Schnee vorbeiwehen. Langsam wälzt sich das Auto durch die Stadt. Seine Zigarette glimmt noch, er raucht sie weiter. Im Rausch hört er sich sagen: "Nach Bisamberg, bitte." Die kleine Gemeinde liegt nördlich, außerhalb des Wiener Stadtgebiets. Der Taxler gibt Gas.

Die Pflegemutter zieht Meinhard zusammen mit ihren zwei leiblichen und zwei anderen Pflegekindern auf. Zeitweise, das zeigt der Akt, sind sogar sieben Kinder bei ihr gemeldet. Sie hausen in einer Zweizimmerwohnung mit Küche ohne Bad. Als Toilette hält ein Kübel her. Das Zimmer für die drei Pflegekinder hat 16 Quadratmeter. Jeden Tag nach der Schule werden sie eingesperrt. Die Glühbirne ist herausgedreht, die Fensterläden zu. Geburtstage werden ignoriert, auch zu Weihnachten sind die Kinder in der Dunkelheit eingeschlossen.

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Die Pflegekinder haben kein Spielzeug, sie beschäftigen sich mit Staubkörnern. Sie wissen nicht, wie es ist, draußen zu toben. Trotzdem haben sie blaue Flecken und zerrissene Hosen. "Mutti" schlägt mit Kochlöffeln, ledernen Fliegenklatschen oder dem Teppichklopfer, meist auf Stellen, die niemand unter dem Gewand sieht. Sie lässt die Kinder auf Holzscheiten knien oder schleift sie an den Ohren durch das Zimmer. Nachts werden sie ans Bett gefesselt. Meinhard ist Bettnässer, auch dafür wird er gehauen. Verdroschen, sagt er. Jeden Tag.

Manchmal lässt die Pflegemutter den Hund auf ihn los. Die Narbe, als sich das Tier durch seinen Mundwinkel beißt, sieht man noch heute. Einmal reißt die Frau dem Buben alle Milchzähne mit einer Beißzange aus. Eines der Kinder hält seinen Kopf, das Blut spritzt durch die Küche. Meinhard muss es selbst aufwischen. Als er längst erwachsen ist, diagnostiziert ein Wiener Zahnchirurg gravierende Kieferbrüche. Außerdem hungern die Kinder. Abends gibt es oft nur verschimmeltes Brot. Meinhard muss sich einmal übergeben, die Pflegemutter drückt seinen Kopf in das Erbrochene, bis er es isst. Es gab keinen Tag, an dem ich nicht geweint habe, sagt er, aber ich hab auch nichts anderes gekannt.

Das Jugendamt kündigt seine Kontrollbesuche stets vorher an. Meinhard weiß, dass sie kommen, sobald die Pflegemutter raunt: Wenn du was sagst, bring ich dich um. Er sagt nichts. Die Akten dokumentieren, dass der Bub untergewichtig ist. Aber sie zeigen auch, dass die Kontrollen über die Jahre seltener werden. Es gibt nichts zu beanstanden. Trotzdem ahnen Nachbarn etwas von den Vorgängen hinter den geschlossenen Fensterläden. Sie sammeln Unterschriften und senden sie wiederholt ans Jugendamt. Der Bub bekäme "mehr Schläge als zu Essen", steht in den begleitenden Zeilen. Eine Reaktion bleibt aus. Es wird vorerst nur abgeheftet. News kennt diese Unterlagen.

An jenem Tag, an dem die Kindesmisshandlung auffällt, gehen die drei Pflegekinder dick eingeschmiert zur Schule. Weiße, zähe Niveacreme. Als die Salbe einzieht, sieht die Lehrerin blau geschlagene Gesichter. Der Direktor informiert die Polizei. Doch die Kinder mauern, sie trauen sich nicht, die Wahrheit zu sagen. Bis eines aufbricht.

»Scheiß Jugend, immer nur Spaß im Schädel!«

Monsteraugen

Die Rettung holt die Pflegegeschwister ab, Meinhard hat die beiden nie wieder gesehen. Ihn bringt die Polizei zurück zur Pflegemutter, sein Gesicht weist die vergleichsweise schwächsten Blessuren auf. "Mutti" steht neben ihm, als Jugendamt und Polizei den Buben befragen, und blickt ihn an. Diese Monsteraugen, sagt Meinhard. Der Bub schwört Stein und Bein, dass ihm zuhause kein Leid zugefügt wird. Unter sein Gewand schaut niemand. Die Behörden ziehen ab. Er bleibt zurück.

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Meinhards Martyrium geht weiter. Obwohl der inzwischen neunjährige Bub immer noch schweigt, sieht man ihm zunehmend die psychischen Probleme an. Er ist ein auffällig desorientiertes Kind, hat Schulschwierigkeiten. Das Jugendamt veranlasst nun doch einen Besuch beim Psychiater. Der erstellt ein Gutachten, attestiert ihm eine geistige Behinderung und empfiehlt die Anmeldung in einer Schwerstbehinderten-Sonderschule. Sie hielten mich für schwachsinnig, sagt Meinhard.

Von da an wechseln einander Aufenthalte in der Psychiatrie des Landessonderkrankenhauses Graz und das Leben bei der Pflegemutter ab. Hier sind in den 1970er- Jahren 45 schwerstbehinderte Kinder untergebracht, viele können nicht sprechen. Die Fenster haben Gitter, aber anders als bei der Pflegemutter kann man hinausschauen, ohne Fensterläden. Alles war hell, sagt Meinhard, wie die weißen Kittel.

Doch auch diese Station, die den Buben eigentlich auffangen soll, wird kein Ort zum Durchatmen. Die Abteilung wird von den Kreuzschwestern geführt. Auch sie bestrafen mit Gewalt, die Kinder werden mit Kabelschläuchen geschlagen. Gesalzen, sagt Meinhard. Weil Kabel auf der Haut brennen. Verdammt, die brennen.

Den Kindern werden zudem sedierende Medikamente verabreicht, oft sitzt Meinhard benebelt in der Ecke. Wutanfälle werden mit der Zwangsjacke therapiert. In der Badewanne vergeht sich eine der Schwestern an ihm. Meinhard wehrt sich nicht. Und er bekommt auch nicht mit, dass die Pflegemutter vor Gericht kommt, ein weiteres Mal, und wieder verurteilt wird. Wegen Kindesmissbrauchs ihrer Pflegekinder - auch an Meinhard. Ab da muss er zwar nie mehr zurück in die 16 Quadratmeter Dunkelheit. Doch Meinhard wohnt jetzt in der Psychiatrie. Bei den Kabelschläuchen. Es hat sich keiner interessiert für diesen Buben, sagt er.

Das Wunder

Eines Tages passiert ein Wunder. Als Meinhard mit 15 Jahren von der Kinder-in die Jugendstation wechselt, macht ein Pfleger etwas, das keiner je zuvor getan hat. Er fragt Meinhard, wie es ihm geht. Und was er erlebt hat. Es dauert ein Jahr, lange muss er auf eine Antwort warten, doch irgendwann bekommt der Pfleger eine. Und dann nimmt er Meinhard mit nach Hause. Der Mann adoptiert den 16-Jährigen. Er hat mich befreit, sagt Meinhard.

Zum ersten Mal erlebt er ein Weihnachtsfest, Meinhard lernt eine normale Welt kennen, ohne Gewalt, aber sie kommt ihm surreal vor. Es werden drei beschützte Jahre. Der schwer traumatisierte Teenager erlebt sie in Trance. Nachts macht er noch immer ins Bett.

Mit den Sonderschul-Zeugnissen findet Meinhard keine Ausbildungsstelle und erledigt Hilfsarbeiten auf Baustellen. Die Handwerker nennen ihn "den Behinderten". Die neue Freiheit überfordert ihn, er sammelt kleine Vorstrafen am Jugendgericht wegen Diebstahls und Betrugs. Meinhard kommt in der Steiermark nicht mehr an, auch nicht im neuen Zuhause bei seinem Pflegevater. Ohne einen Schilling in der Tasche steigt der 19-Jährige in den Zug nach Wien. In ein neues Leben, denkt er.

Mord

Das Taxi erreicht inzwischen Bisamberg. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtet der Fahrer, wie Meinhard den letzten Zug seiner Tschick nimmt und sie ohne zu zögern am Beifahrersitz ausdämpft. Wütend bremst er. Der Wagen hält in einer einsamen Sackgasse. Der Taxameter endet bei exakt 286 Schilling.

Voller Zorn fordert der Taxler Geld für eine neue Polsterung, jetzt, sofort. "Scheiß Jugend, immer nur Spaß im Schädel!" Er schreit es diesem Steirer Burschen ins Gesicht, der keine Jugend hatte und keinen Spaß. "Schleich dich!" Aber Meinhard brennen alle Sicherungen durch.

Ein Faustschlag. Dann noch einer. Er kann danach nicht mehr sagen, wie oft er auf den Taxler einprügelt. Er hält den Mann im Schwitzkasten, würgt ihn. Aus dem späteren Obduktionsbericht geht hervor, dass sich der Taxifahrer lange verzweifelt gewehrt haben muss. Irgendwann zieht er seinen Gürtel aus und erdrosselt ihn. Bis der Taxifahrer nicht mehr atmet. Bis er endlich nicht mehr über die lustige, spaßige Jugendzeit schimpfen kann.

Meinhard wirft den leblosen Körper auf die Straße, rechts hinter den Kofferraum, mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt. Er streift die Armbanduhr vom Toten, zieht den Autoschlüssel ab und nimmt die Geldbörse an sich. Dann versucht er, das Auto mit benzingetränkten Zeitungen anzuzünden, den Körper auch. Und flüchtet. Von einer Telefonzelle aus bestellt er noch einmal ein Taxi, das ihn zurück nach Wien bringt. Wieder sieht Meinhard die Stadt im Morgengrauen an sich vorbeiziehen. An seinen Händen klebt Blut.

Tagelang tappen die Kriminalisten im Dunkeln. Das Kopfgeld auf den Raubmörder wird von 10.000 auf 60.000 Schilling erhöht. Meinhard versteckt sich in der Wohnung eines Bekannten. Am 23. Dezember begibt er sich zum Westbahnhof, er will nach Hause, in die Steiermark. Noch bevor der Zug losfährt, nehmen ihn die Beamten fest. In der Nacht auf Heiligabend gesteht er.

Das Urteil

Aufgrund des Alkoholeinflusses gilt Meinhard zum Tatzeitpunkt als unzurechnungsfähig und somit schuldunfähig, die Gerichtspsychiater diagnostizieren "geistige Abnormität". Er habe eine schwere Persönlichkeitsstörung, heißt es, eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft scheine fraglich. Im September 1987 verurteilen die Geschworenen diesen schmächtigen Brillenträger mit Krawatte auf der Anklagebank zu 16 Jahren Haft sowie Unterbringung in einer Anstalt.

Meinhard gilt als einer der gefährlichsten Gefängnisinsassen des Landes und pendelt zwischen den größten Justizanstalten Österreichs. Von Krems-Stein wechselt er in die Karlau nach Graz und von da nach Garsten. Jedes Mal ist der Gefangenentransport hoch gesichert. Er genießt den Ruf, der ihm anhaftet, zum ersten Mal ist er wer. Zum ersten Mal wird aufgeschaut, nicht runter.

Nach 14 Jahren ohne Kontakte in die Außenwelt, guter Führung im Knast und neuen forensischen Gutachten, die die "besondere Gefährlichkeit" nicht mehr halten können, wird Meinhard im Jahr 2000 aus dem Gefängnis entlassen. In eine Welt mit Handys, Internet und offenen europäischen Grenzen.

Es ist ein greller und heißer Tag, als er seine ersten Schritte zurück in die Freiheit geht. Nein, kein Zurück, ich war doch nie frei, sagt Meinhard, bis dahin war ich mein ganzes Leben lang eingesperrt. Er ist 34 Jahre alt, als er an diesem Tag zur Eisdiele spaziert. Zitternd bestellt er drei Kugeln Eis: Zitrone, Schokolade und Erdbeere. Wie ein kleiner Bub.

Es war kein Traum

Ich hab lange gedacht, ich träume das alles. Wenn ich begriffen hätte, was da passiert, hätte ich das nicht überlebt, sagt er. Meinhard ist ein ruhiger Mensch, seine Sätze schmückt er mit Sprichwörtern, er spricht fast dialektfrei, denn die Steiermark will er nicht mehr in den Mund nehmen. Sein Lachen klingt nach zu vielen Zigaretten. Ich hab eine Hartnäckigkeit in mir gefunden, sagt er, während er den Tabak zwischen seinen Fingern rollt, ich halte keine Ungerechtigkeit mehr aus.

© Illustrationen: Arnulf Rödler

Meinhard bezieht Notstandshilfe. Er hat nie richtig lesen und schreiben gelernt, die Sonderschule hat er als Analphabet verlassen. Später, in der Gefängniszelle, hat er sich die Buchstaben autodidaktisch beigebracht. Einen Job hat er trotzdem nicht mehr gefunden. Erst hatte ich den Behindertenstempel, sagt er, dann das Mörderpickerl. Kein Arbeitgeber will so jemanden.

Der Mörder wirft den leblosen Körper auf die Straße, mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt. Dann versucht er, das Auto anzuzünden, den Körper auch

Im Jahr 2013 beschließt Meinhard, seine Geschichte aufzuarbeiten. Er beschafft sich den Akt aus dem Jugendamt und blättert sich durch die Jahre seiner Kindheit und Jugend. Kopieren darf er ihn nicht, darum fotografiert er ihn heimlich ab. Es sind die Dokumente, die heute helfen, seine grausamen Schilderungen mit Fakten zu unterlegen.

Dabei stößt er auf ein weiteres Gutachten, angefertigt am Ende seiner Zeit in der Psychiatrie. Eine Ärztin widerlegt darin vehement die einst diagnostizierte geistige Behinderung und spricht von einem fatalen Fehlbefund. Es sei unübersehbar, "dass dieser Bub auf dem falschen Platz ist". Sie regt zum Schluss dieses Schreibens an, "der Sache nachzugehen, warum der Schüler so lange in die Schwerstbehindertenschule" abgeschoben wurde.

Ich musste aufstehen und mich an die frische Luft stellen, als ich das alles las, sagt Meinhard, mir fiel plötzlich das Atmen schwer. Daraufhin wendet er sich an jene Stellen, die ihn vernachlässigt, gequält oder weggesehen haben.

Was kostet Gerechtigkeit?

Das Land Steiermark zum Beispiel hat Meinhard um eine Entschädigungszahlung ersucht. Doch die Opferschutzkommission für ehemalige Heim-und Pflegekinder sei schon seit Ende 2012 nicht mehr offen für neue Fälle, so die Antwort. Eine Fachärztin der "Ombudsstelle für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch" hat seinen Schilderungen inzwischen "Glaubhaftigkeit" bescheinigt. Seit wenigen Wochen hat er eine Rechtsanwältin, er will klagen und Schadensersatz.

Im Jänner 2017 erreicht Meinhard plötzlich ein Antwortschreiben der Kreuzschwestern, deren Orden damals die Kinderpsychiatrie führte. Es ist einer der wertvollsten Briefe, die er besitzt. Die Provinzoberin entschuldigt sich darin für die Demütigungen, Misshandlungen und Bestrafungsmethoden ihrer Mitschwestern. Schwarz auf Weiß, sagt Meinhard. Sie wünscht ihm, dass er eines Tages heilen kann.

Meinhard wünscht sich Gerechtigkeit. Dass die Republik ihn als Opfer anerkennt und eine Entschädigung. Für die Chancen, die ihm genommen wurden

Meinhard Lehner lebt heute unter neuem Namen irgendwo in Österreich. Er hat geheiratet, zwei Kinder bekommen, einen Kredit aufgenommen, keinen großen, den hätte er ja auch gar nicht bekommen, und ein Haus in einer abgelegenen Gegend gekauft. Eine zugemüllte Bruchbude, die er Stück für Stück aufgeräumt und großteils hergerichtet hat. Es gibt noch immer keine Heizung, vieles ist behelfsmäßig. Aber für Meinhard ist es "sein Reich", mit einem kleinen Teich und einem Lagerfeuerplatz, mit Hund und Katze. Er hat das alles alleine geschafft. Und er ist nie wieder straffällig geworden. Seine Kinder erzieht er ohne Gewalt.

Meinhard, der Taximörder, Härte und Stärke, ist heute 51 Jahre alt. Vielleicht noch zehn Jahre leben, überlegt er, Häfenbrüder sterben früh, und mein Körper wurde zu lang gequält. Bis dahin wünscht er sich Gerechtigkeit. Dass die Republik ihn als Opfer anerkennt und ihm die Entschädigung gewährt. Für die Chancen, die ihm genommen wurden. Für die Bildung, der er beraubt wurde. Für das Wegschauen. Ich hab ja auch für das gebüßt, was ich getan habe, sagt er. Und dass er das alles einmal erzählen wollte.