"Es gibt für jede Tageszeit einen Champagner"

Fast hätte das Schicksal ihren Weg verhindert. Champagner-Erbin Virginie Taittinger bot ihm Stirn. Mit 47 Jahren schuf sie aus dem Nichts ihren eigenen Haute-Couture-Champagner.

von "Es gibt für jede Tageszeit einen Champagner" © Bild: Ricardo Herrgott

Die Worte des Vaters waren im familientypischen Humor durchaus als Aufmunterung zu verstehen: "Wenn du deine 350.000 Flaschen nicht verkaufen kannst? Dann trinken wir sie selbst! Dein Champagner schmeckt großartig!" Virginie Taittinger war damals Anfang 50 und hatte ihr gesamtes Vermögen in die Schöpfung ihres eigenen Champagners gesteckt. Es war der Moment, als kurz die Nerven blank lagen.

Zuvor hatte ihr Vater Claude Taittinger das Champagnerhaus Taittinger 46 Jahre lang als Präsident und Generaldirektor zu weltweiter Bekanntheit geführt. 21 Jahre lang war ihm Tochter Virginie dabei zur Hand gegangen. Dann war das Familienunternehmen aus Reims, zu dem auch zahlreiche Hotels gehörten, wegen Erbstreitigkeiten an die amerikanische Aktiengesellschaft Starwood verkauft worden. Virginies Cousin Pierre-Emmanuel Taittinger kaufte die Champagnersparte zwar wieder zurück, wollte aber künftig nur noch mit seinen Kindern arbeiten.

"Ich war überrascht", kommentiert Virginie Taittinger seine weitreichende Entscheidung heute leichthin. Am Ende sei schließlich alles bestens gelaufen, sagt sie beschwingt. "Ich war damals 47 Jahre alt. Das ist ein gutes Alter für einen Neubeginn. Du hast Erfahrung und bist nicht zu jung. Aber du bist immer noch voll Elan und nicht zu alt!"

Neustart als "Virginie T."

Fünf Jahre lang nahm sich die Enkeltochter des 1965 verstorbenen Firmengründers Pierre Taittinger Zeit, um an ihrem Produkt zu feilen. Sie musste trotz viel Erfahrung jeden Schritt der Herstellung neu denken. Da war kein Team mehr. Kein Vater, der den Weg vorgab. Noch heute verantwortet ihr nur vierköpfiges Team persönlich jeden Produktionsschritt von Weinlese über Pressung, Assemblage bis Marketing und Vertrieb. "Das Schwierigste war, mich vom Taittinger-Geschmack zu befreien, auf den ich mein Leben lang eingeschworen war. Denn als Kopie bist du immer nur Zweitbeste", erzählt sie von Dutzenden Touren durch die Weinberge der Champagne zu Verkostungen bei kleinen Winzern. "Seit ich weiß, wie viele Nuancen an Geschmack es gibt, finde ich die traditionellen Champagnermarken, die immer gleich schmecken, langweilig", schildert sie den Findungsprozess.

© Ricardo Herrgott Virginie Taittinger und Sohn im Weingarten nahe Sillery bei Reims

Ihr Ziel war es, Haute-Couture-Champagner zu kreieren statt Stangenware, Champagner für jeden Anlass und jeden persönlichen Geschmack. Ihre Marke Virginie T. kreiert aus den jeweils besten Produkten eines Jahrgangs vielfältige Champagner und nutzt dabei die jeweiligen Vorteile der Cuvees. Dass Virginie T. nicht erwartbar schmeckt, sondern immer wieder neu entdeckt werden kann, hat sie zu ihrem Unterscheidungsmerkmal gemacht.

"Es gibt für jede Tageszeit und jede Stimmung einen eigenen Champagner", weiß sie heute. Statt sich mit Marken wie Moët &Chandon zu messen, die 30 Millionen Flaschen pro Jahr herstellen müssen, um ihre Lieferverträge einhalten zu können, nimmt sich Virginie Taittinger auch die Freiheit, ein Jahr in der Produktion zu pausieren wie 2013 oder 2017, wenn die Ernte nicht ihren Maßstäben entspricht.

Familienauftrag über Generationen

Die Leidenschaft für Champagner wurde der 60-Jährigen, die beim Erzählen von Englisch zu Deutsch und Französisch wechselt, doppelt in die Wiege gelegt. Neben dem Vater, dessen Familie 1932 in die Branche einstieg, verantwortete die Familie ihrer Mutter, Catherine de Suarez d'Aulan, von 1851 bis 1988 den Erfolg der Marke Piper-Heidsieck.

Derart begründet die dreifache Mutter Taittinger auch die eigene Motivation: "Ich wollte nicht, dass die Champagnertradition in meiner Familie mit mir endet. Es ist mir wichtig, dieses Wissen weiterzugeben!" Ihr Sohn Ferdinand Pougatch lacht gottergeben, als die Mutter dies sagt. Der 30-Jährige hat sie nach Wien begleitet wie zu allen Reisen, auf denen sie kostenbewusst ein Hotelzimmer teilen. "Wir sprechen mehrmals am Tag, wir reisen zusammen. Anfang des Jahres wurde ich Großmutter, und seine Frau ist reizend! Ich bin happy!", beschreibt sie überschwänglich.

© Hélène Guillet Photographe Virginie T. bietet 21 verschiedene Champagner und fünf Blanc de Blancs

"Bin ich nicht der glücklichste Sohn auf Erden?", kommentiert Ferdinand im familientypisch trockenen Humor des Großvaters und lacht. Seit sechs Jahren unterstützt er die Mutter im Unternehmen und erlebte im Vorjahr die erste Cuvée, die er mitentwickelt hat. Bei Virginie T. gibt man dem Champagner aus Aromagründen nach dem Motto "lange auf der Hefe, sehr lange!" mindestens fünf Jahre Reifezeit - deutlich mehr als die vorgeschriebenen 15 Monate für jahrgangslose und drei Jahre für Jahrgangs-Champagner.

So beurteilt man Champagner

Im Unternehmen erfüllt Taittingers Sohn Ferdinand die Aufgabe des "detailverliebten Strebers", wie er sagt. Er weiß, dass die Generation junger Konsumenten Transparenz über Bioanbau und Verarbeitung braucht, und arbeitet auch an einer spezifischen Champagnersorte, die perfekt mit Kaviar harmoniert sowie einer weiteren als Begleitung zu indischen Speisen.

Naturgemäß fühlt er sich berufen, die Merkmale zu beschreiben, an denen man hochwertigen Champagner erkennt. Vorausgeschickt sei der Hinweis, ihn aus einem weiten Weißweinglas zu genießen.

"Wenn die Perlen aufsteigen und an der Nase prickeln, verursacht dies der Alkohol, dann ist der Champagner zu jung. Die Perlen gehören ins Glas", so Pougatch. "Riecht man keine Aromen, sondern Alkohol, ist es kein gutes Zeichen. Auch Schaum, der im Mund entsteht, ist ein Zeichen für zu viel Alkohol oder zu jungen Champagner. Brennt es im Abgang, in Speiseröhre oder Magen? Dann wurde versucht, ein Zuviel an Säure mit Zucker auszugleichen, denn der Gaumen kann dies nicht unterscheiden." Exzellenter Champagner muss übrigens nicht eiskalt sein (zehn Grad gelten als ideal), er schmeckt auch eine halbe Stunde nach dem Einschenken, weil die hochwertige Cuvée zum Tragen kommt.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 41/2021.