Verträumte Arbeitswelt

Wir streiten gerade leidenschaftlich über Wert, Sinn und Zweck von Arbeit. Aber am Ende bleibt sicherheitshalber erstmal alles so, wie es gerade ist.

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Das Wording ist ausbaufähig. Es geht um Schuld und Sühne. Es wird gedroht und eingemahnt. Wer nämlich zu viel arbeitet, bekommt Post. Für "zu viel" reicht ein bisschen über der Zuverdienstgrenze. Aber da kennt das System kein Pardon. 79,25 Euro inklusive der gesetzlichen Verzugszinsen sind nachzuzahlen, so steht es in dem Schreiben, das mit "Mahnung" überschrieben ist. Die Zahlung hat binnen zwei Wochen zu erfolgen. Ansonsten wäre der Absender, also die Gesundheitskasse, mit Bedauern gezwungen, "alle erforderlichen Maßnahmen zur Hereinbringung dieser Schuld zu veranlassen". Schuldig also, weil der (begehrte) Kellner im Nebenjob ein paar Stunden zu lang die Schnitzel serviert hat. Grenze ist eben Grenze. Das ist so, das war schon immer so. Über eine Ausdifferenzierung -Streichung etwa bei Arbeitslosen, aber Anhebung bei Studentenjobs - trauen wir uns nicht drüber. Das passt in die aktuelle Diskussion rund um den Stellenwert von Arbeit, die seit zwei Wochen, losgetreten vom Arbeits-und Wirtschaftsminister, geführt wird. Es geht um wahlweise zu viel oder zu wenig Engagement im Job, viele Vorurteile und unbezahlbare Vorstellungen. Während die einen sich schon am Mittwoch auf das Wochenende freuen, trauen sich andere gar nicht mehr laut zu sagen, dass sie es gern tun. Arbeiten nämlich.

Die einen gelten als faul, weil sie nicht Vollzeit arbeiten. Andere träumen überhaupt von der Wohlfühllösung schlechthin: Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich. Die Debatte bekommt gerade eine ordentliche Schieflage. Vor allem aber ist sie meilenweit von Lösungen entfernt, die es schon längst geben müsste. Der Arbeitsmarkt ist leer gefegt, die demografische Entwicklung hat uns auf dem falschen Fuß erwischt. In Österreich fehlen in den kommenden Jahren 500.000 Arbeitskräfte quer durch alle Branchen. 1,1 Millionen Menschen arbeiten in Teilzeit; 960.000 davon sind Frauen. Letzteres macht uns in Europa so schnell keiner nach. Überschaubare 6.500 Fachkräfte wurden 2022 über die viel gerühmte Rot-Weiß-Rot-Karte ins Land geholt. Wir werden jeden brauchen, sagen jene, die sie brauchen. Und sie winken ab bei der verträumten Idee, sich die begehrten Fachkräfte, Pflegekräfte etwa, mit ein paar warmen Worten im Ausland zu holen -nämlich in ein Land, das nicht zwingend den Eindruck vermittelt, andere willkommen zu heißen.

»Wir müssen endlich über mehr als nur den Sinn von Arbeit reden«

Aber weil die Politik weder das Wort von der qualifizierten (!) Zuwanderung noch von der Pensionsreform in den Mund nehmen will, eiert sie einfach herum, leistet sich im Vorbeigehen eine Sozialleistungsdebatte und lässt eine Jugendstaatssekretärin laut träumen: vom Hausbau, den man sich wieder leisten können müsse, weswegen man ja mal über die Abschaffung der Grunderwerbssteuer reden könne, damit sich "die Jungen etwas schaffen können". Viel weiter von der Lebensrealität vieler Menschen kann man sich wohl nicht mehr entfernen.

Natürlich greift die Diskussion "Wir haben zu wenige Fachkräfte, also müssen die, die wir haben, länger arbeiten" zu kurz. Natürlich müssen wir über den Sinn von Arbeit und Rahmenbedingungen sprechen. Wir können da anfangen, wo wir wissen, wie es geht. Wo das Nachdenken schon abgeschlossen sein sollte und die Politik sagen muss: Ja oder nein? Es geht um mehr Netto vom Brutto, um flächendeckende Kinderbetreuung, Ganztagsschulen. Es geht übrigens auch um Betreuung für in Summe 14 Wochen Schulferien, denen nur ein Bruchteil elterlicher Urlaub gegenübersteht. Es geht um das Bildungssystem. Wer vor allem auf frühe Trennung pocht und ansonsten immer nur evaluiert, wie es besser gehen könnte, hat nichts kapiert. Und das nicht erst seit gestern.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: gulnerits.kathrin@news.at