Versöhnlicher Neustart

Hinter uns liegt ein zermürbendes Jahr. Vor uns liegen große Herausforderungen. Es gibt aber auch Hoffnung. Nur an der Zuversicht müssen wir noch arbeiten.

von Versöhnlicher Neustart © Bild: News/ Matt Observe

Erinnern Sie sich? Wie wir ohne viel Getöse, im kleinsten Kreis, aber mit ganz viel Hoffnung in dieses Jahr 2021 gegangen sind? Es war ein stiller, ein sang- und klangloser Jahreswechsel, der sich dennoch in den ersten Stunden des neuen Jahres gut angefühlt hat. „Wird schon irgendwie“, dachten wir. Jedenfalls besser als alles, was war. Schließlich lag die Rückkehr zu unserem alten Leben dank eines in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelten Impfstoffs in greifbarer Nähe. Plötzlich gab es wieder so etwas wie Zuversicht.

Und heute? Fast zwölf Monate später, nach den vielen parteitaktischen Spielchen, Fehl- und Nichtentscheidungen, Skandalen und Skandälchen, unhaltbaren Versprechen und weitergereichter Verantwortung? Nach alldem ziehen wir in diesen Tagen wieder Bilanz. Einmal mehr ist es eine bittere Bilanz. Hinter uns liegt ein schwieriges, ein kräftezehrendes, ein zermürbendes Jahr. Eines voller Umbrüche, Entfremdungen, Sprachlosigkeit und schmerzhaft fehlender Solidarität und Einsichtigkeit. Ein Jahr, das Wunden hinterlassen, aber auch Misstrauen und Hass gesät hat. Ein Jahr, das uns als Gesellschaft gefordert hat. Es war aber auch ein Jahr, das auf den letzten Metern mit einem Lichtermeer, einem stillen Gedenken an die vielen Corona-Toten und einem Dank an jene, die sich der Pandemie täglich in den Weg stellen, einen Hoffnungsschimmer gesetzt hat.

»Es geht um mehr als die Hoffnung, dass wir Ende 2022 besser dastehen als heute«

Es ist ein kurzer, wichtiger Moment des Innehaltens, bevor die Scheinwerfer im neuen Jahr wohl wieder zwangsläufig auf die krakeelende Minderheit auf der Straße gerichtet werden. Auf jene, die „Wir sind das Volk“ und „Freiheit“ schreien. Rufe, die in den Herbsttagen 1989 auch durch die Straßen hallten. In Ostdeutschland. Damals, als der Demonstrationszug schwer bewaffneten Sondertruppen der Polizei gegenüberstand. Damals, als es tatsächlich um Freiheit mit all ihren Facetten ging – und eben nicht um Befindlichkeiten, die einem gerade nicht passen: das Impfen, die 2G-Regel, die Maskenpflicht.

Viel zu lange schon hat dieser laute Protest die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Viel zu lange haben Politik und Medien auf die Falschen geschaut und versucht, einen Dialog zu führen, den diese gar nicht führen wollen. Ihnen, dem Rand, der sich abgewendet hat, klarzumachen, was toleriert wird und was nicht, das wird eine der Herausforderungen im Jahr 2022 sein. Eine viel größere Aufgabe wird es aber sein, das Vertrauen der Menschen in die Politik zurückzugewinnen. Das hat 2021 in allen Bevölkerungsgruppen einen Tiefpunkt erreicht. Die einen fühlen sich bevormundet und abgehängt. Andere – vor allem junge Menschen, Eltern, Menschen in systemrelevanten Berufen – haben das Gefühl, nicht gesehen zu werden.

Ob es gelingt, wieder aufeinander zuzugehen, daran wird die Regierung gemessen. Nicht irgendwann. Sondern ab sofort. Der Anfang ist gemacht. Die Wortwahl des Neuen an der Regierungsspitze ist wohlüberlegt, versöhnlich, verbindlich. Aber nicht nur er und seine Politik stehen in der Pflicht. Auch wir alle, die in diesem Land leben. Es geht um viel. Jedenfalls um weit mehr als die Hoffnung, dass wir Ende 2022 besser dastehen als heute.