Vasily Klyukin: "Kunst ist mir einfach passiert"

Vasily Klyukin war Banker und Millionär, bevor er aus der Finanzkrise als Künstler und Umweltvisionär emporstieg. Nun erzählen seine Skulpturen in Wien von Zerstörung und Hoffnung.

von Kultur - Vasily Klyukin: "Kunst ist mir einfach passiert" © Bild: Matt Observe/News

Sie bloß Hochhäuser zu nennen, wäre beleidigend. Es sind kunstvolle Wahrzeichen, die Vasily Klyukin schuf und sich damit auf die Landkarte der Kunstwelt beförderte. Eine Arena in Form eines Rosenstraußes. Wolkenkratzer, die aussehen wie Schachfiguren. Ein Hochhaus, in dem man eine Interpretation der "Nike von Samothrake" bewohnt - die antike griechische Originalskulptur befindet sich im Louvre. Seine spektakulären architektonischen Ideen erregten Aufsehen, denn sie zeigen einen kritischen Geist, dem Grenzen fremd sind. Wenn Klyukin eine Idee hat, setzt er sie um. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Oder wie er es formuliert: "Die Skeptiker und ich spielen nicht im gleichen Team." Völlig unbedeutend ist dabei im Übrigen, dass keiner dieser Wolkenkratzer je gebaut wurde. Im prächtigen Album "Designing Legends" kamen sie ebenso gut zur Geltung wie als Miniaturskulpturengruppe "Dream City". "Meine Entwürfe sind berühmter als Hunderte von real existierenden Skyscrapers", konterte er damals Kritiker. Dass der russische Millionär mit den außergewöhnlichen Hochhäusern im Begriff war, sich als bedeutender Künstler neu zu erschaffen, war ihm nicht bewusst. Und es war auch nie sein Plan.

Künstler und Klimaschützer

Die russische Version von Tony Stark - bekannt als millionenschwerer philanthropischer "Iron Man"-Held - wurde Klyukin zu Anfang seiner Karriere als Künstler genannt. Die Erzählung vom detailverliebten, technikaffinen Kämpfer für das Gute passt auch heute noch zu dem Mann im kunstvoll mit Farbflecken bedruckten weißen Hemd. Es ist eine Eigenkreation, die zufällig nach einem Arbeitstag im Atelier entstand. Dies erzählt er strahlend und freut sich sichtlich, auf das Künstlerhemd angesprochen zu werden. Im traditionellen Ambiente des Hotels Sacher wirkt der Künstler mitsamt seinen ruhigen Gesten, dem freundlichen Lächeln und der leisen Stimme wie ein Visionär aus einer anderen Welt. "Ich habe mich nie aktiv entschieden, Künstler zu werden. Es ist einfach passiert", betont der 45-Jährige im Gespräch.

© Matt Observe/News Beim Gespräch im Hotel Sacher trägt Vasily Klyukin eine Eigenkreation. Das Hemd entstand spontan nach einer langen Session im Atelier

Kuratorin Anne Avramut lud ihn im August zu seiner ersten Ausstellung nach Wien, und er ist vorab hier, um die Hauptstadt besser kennenzulernen, die bald u. a. seine atemberaubende Zehn-Meter-Skulptur "Why Can't People Fly" beherbergen wird. Die Figur eines Menschen mit der auf dem Kopf stehend schwebt, symbolisiert eine verkehrte Welt, in der die Menschheit den Planeten zerstört, der sie nährt.

Dystopische Motive prägen Klyukins Werk. Vor drei Jahren wurde seine Ausstellung "In Dante Veritas", inspiriert von Dantes "Göttlicher Komödie", im Staatlichen Russischen Museum von Kritikern gefeiert. Darin verkörpern 26 Skulpturen apokalyptische Reiter, menschliche Sünden und Dantes Totenmaske. Das Projekt, das Dantes Hölle als selbst gemachten Umweltkollaps interpretiert, wurde 2019 auf der Biennale in Venedig im Arsenale Nord gezeigt. Als "Performance, die ein aktuelles gesellschaftliches Problem beleuchtet: das mögliche (unausweichliche?) Aussterben des menschlichen Geschlechts", lobte der renommierte US Kunstkritiker Donald B. Kuspit das Werk.

»Die Skeptiker und ich spielen nicht im gleichen Team. Mir genügt ein Prozent Chance, um erfolgreich zu sein«

Gleichzeitig festigte Klyukin damit s eine Reputation als Klimaschützer. Das kollektive Handeln der Menschheit und dessen Folgen für unsere Umwelt sind Themen seiner Kunstwerke. Heute wird ervon der größten britischen Galerie, Simon Lee Gallery, in London vertreten und von weltweiten Sammlern nachgefragt. Bei Wohltätigkeitsauktionen erzielten Skulpturen des Russen in den vergangenen beiden Jahren drei Millionen US Dollar für die Organisationen amfAR, Unicef, die Leonardo DiCaprio Foundation und die Prince Albert II. of Monaco Foundation.

Vom Sieg über die Angst

Man ist versucht, in Klyukins Werk Einsamkeit, Verwüstung, Tod und Dunkelheit zu sehen. Details verraten dagegen den ewigen Optimismus, der den Künstler ausmacht. Dieses Detail ist ihm so wichtig, dass er es einem Ausstellungsbesucher einst persönlich erklärte. "Da war ein Mann, der meine Werke als düster hat", erzählt Klyukin. "Ich habe ihn auf den Namen aufmerksam gemacht. Es war die Sammlung überwundener Ängste. Da waren Ängste, ja. Aber da war auch der Punkt, an dem sie überwunden waren. Er ist der wichtigste Aspekt. Meine Ängste sind mein größter Feind. Wenn ich sie besiege, mache ich einen wichtigen Schritt nach vorn."

Der Künstler spricht aus Erfahrung. Ängsten stellte er sich schon beim Base-Jumpen, bei einer Tour zum Nordpol, als Flugzeug- und Helikopterpilot. Und einmal, als er auf einem Boot am Atlantik einem Sturm trotzte. "Der Kapitän hat gesagt, wir müssen umdrehen, weil ein heftiger Sturm kommt", sagt Klyukin. Darauf habe er gefragt, ob es lebensgefährlich sei oder nur angsteinflößend. Es werde unheimlich, aber nicht lebensbedrohend, sagte damals der Seemann. Darauf entschied Klyukin, weiterzufahren. "Wenn etwas scary ist, tue ich es erst recht. Um die Angst zu besiegen. Es waren drei verrückte Tage: Am ersten Tag bist du in Schockstarre, am zweiten kannst du halbwegs normal schlafen. Am dritten Tag hast du dich an den Sturm gewöhnt." Vertrauen sei der Schlüssel zum Überwinden der Angst, erklärt der Künstler und vierfache Vater. "Der Kapitän hatte auch eine Frau und drei Kinder, natürlich habe ich ihm vertraut. So, wie ich beim Base Jumpen meiner Ausrüstung vertraue. Das ist essenziell."

© Daniel Danilyants "Why Can't People Fly" ist eines von Klyukins außergewöhnlichen Kunstwerken, mit dem er gegen die Zerstörung des Planeten protestiert. Die zehn Meter hohe Skulptur, die 2019 auf der Biennale in Venedig und am Burning-Man-Festival in Nevada zu sehen war, ist zum Teil mit Plastikmüll aus 150 Ländern gefüllt

Als Klyukin diesem Lebensgefühl besonders viel Raum gab, war er Anfang 30 und dabei, das Leben neu zu bewerten. Am Anfang stand die Finanzkrise 2008, am Ende sein Neustart als Künstler.

Das aufgeschobene Leben leben

Bis dahin hatte er das Geldverdienen in den Mittelpunkt gestellt. Klyukin war in Moskau aufgewachsen, hatte eine mathematische Begabung und sich entschieden, im Finanzsektor sein Glück zu suchen. Er studierte an der Universität, als die Sowjetunion 1992 zerfiel. "Es war ein junges Land, und meine Prioritäten waren, ein Auto zu kaufen, Geld zu verdienen. Künstler war für mich damals kein Beruf", erzählt er. Mit Freunden gründete er als Student die Sovcombank, eine der zwölf systemrelevanten russischen Banken. Mit Erfolg. "Im letzten Jahr unseres Studiums hatten wir zehn Mitarbeiter. Zwischenzeitlich nannten die Kunden uns im Spaß die 'Kindergartenbank', weil der Älteste von uns 21 Jahre alt war", sagt Klyukin.

Viel verloren, mehr gewonnen

Die Finanzkrise 2008 verschob die Prioritäten im Leben des Millionärs. "Ich habe damals viel verloren. Nicht alles. Aber viel", erinnert er sich im Gespräch. Er sagt es unemotional, mehr feststellend. "Die Krise hat mir gezeigt, wie flüchtig das Ergebnis dieses Berufs ist. Du kannst sieben Tage die Woche arbeiten, und dann passiert etwas und du bist machtlos. Damals habe ich erkannt, dass ich nicht den Rest meines Lebens damit verbringen will, Geld zu verdienen. Das ist nicht interessant."

»Damals habe ich erkannt, dass ich nicht den Rest meines Lebens nur Geld verdienen will. Das ist nicht interessant«

Klyukin beschloss, das Morgen ins Heute holen und jenes Leben zu leben, das üblicherweise aufgeschoben wird: alle Reisen, die man plant, alle Bücher, die man lesen möchte, und Menschen, die man treffen will. Monatelang las er, reiste zum Nordpol, machte eine Wanderung durch den Dschungel und an den Fuß des Mount Everest, traf den Dalai Lama und belohnte sich nach jedem Abenteuer mit einem Kunstwerk. "Das ist zur Angewohnheit geworden: Wenn ich etwas geschafft habe, kaufe ich Kunst", beschreibt er. Seine Mutter habe ihm das Sammeln in die Wiege gelegt, so Klyukin. Sie nahm ihn und seinen Bruder als Kinder einmal im Monat mit ins Museum und lehrte sie, die Kunst zu lieben. "Sie hat uns ermutigt, Bilder zu kaufen, die uns gefielen. Nichts Teures, billige Straßenkünstler", erzählt der Bildhauer. Als früheste Eindrücke von Kunst nennt er Karl Pawlowitsch Brjullow, Pawel Andrejewitsch Fedotow und Auguste Rodin: "Ich war zehn Jahre alt, als ich Rodins Skulpturen in der Eremitage gesehen habe. Das werde ich nie vergessen."

Ein Prozent Chance ist genug

Es sollte Jahrzehnte dauern, bis Klyukins eigene Skulpturen entstanden: Als Miteigentümer der Sovcombank baute er nach der Finanzkrise Wolkenkratzer in Moskau. Ein erfolgreiches, aber kompliziertes Projekt, nach dem Dutzende seiner Entwürfe übrig blieben -Hochhäuser, die aussahen wie Schachfiguren oder "Nike von Samothrake". Klyukin sammelte sie im Fotoband "Designing Legends" und fertigte zur Buchpräsentation Hochhausminiaturen aus Bronze und Kunststoff. Es war die Geburtsstunde des Künstlers Klyukin.

"Ich bin Optimist. Es reicht, wenn die Chance, die man bekommt, ein Prozent beträgt. Es geht darum, dieses eine Prozent zu nutzen", beschreibt der Künstler die bis dato wichtigste Erkenntnis seines Lebens. "Ein Prozent ist genug."

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News 31+32/2021.