Der Traum vom Neuanfang in einer fernen Welt

Stefan Selke analysierte, ob ein Neubeginn - etwa im Weltraum - gelingen kann. Zudem erklärt der Soziologe, warum bisherige Utopien scheiterten und warum er große Hoffnungen in die kommende Generation setzt.

von Der Traum vom Neuanfang in einer fernen Welt © Bild: Copyright (c) 2017 e71lena/Shutterstock.

Einfach die Resettaste drücken und einen Neuanfang in einer idealen Welt wagen. In einer Welt mit ganz neuen, bisher nicht da gewesenen Gesetzen, einzigartiger Kultur und ohne Probleme wie dem Klimawandel. Wäre das überhaupt möglich?

Stefan Selke studierte zunächst einige Semester Luft-und Raumfahrttechnik, wechselte dann zur Soziologie. Nach dem Vortrag eines Raumfahrtdirektors, der ein Dorf am Mond präsentierte mit all den technischen Notwendigkeiten und der Möglichkeit, die Menschheit neu zu entdecken, kam Selke die Idee zu seinem neuen Buch "Wunschland"*. Darin beschreibt er, woran utopische Projekte bisher scheiterten und wie ein derartiges Vorhaben vielleicht doch gelingen könnte.

Siedlung im Weltraum oder unter Wasser

"Wie eine ideale Welt ausschaut, hängt von der Epoche ab und wurde daher immer unterschiedlich definiert", sagt Selke. Aber generell bedeute es für Utopisten eine "ärgernisfreie Welt":"Das kann politisch oder religiös motiviert sein, zunehmend aber auch zivilisatorisch-transformativ." Das heißt, in einer idealen Welt sollen Probleme unserer Zeit wie Klimawandel und Kapitalismus ausgehebelt werden, um so ohne Störungen und Ängste leben zu können.

Selke persönlich ist "sehr begeistert" von der Idee, Weltraum und Unterwasserwelt zu erschließen, um hier neuen Lebensraum für Menschen zu schaffen. "Eine Besiedelung des Weltraums ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch ein dringend notwendiger Perspektivenwechsel", sagt Selke. Doch im Moment würden die Zeichen für eine derartige Vision schlecht stehen, findet er. "Derzeit gibt es kein großen Leitutopien außer jene von Techno-Propheten, die davon träumen, dass die Welt von Supercomputern mit künstlicher Intelligenz regiert wird", kritisiert der Soziologe. "Allerdings geht es bei all diesen Plänen immer nur um das rein technische Machbare. Viel zu selten wird über die Kultur, das Rechtssystem oder Bildungsmöglichkeiten nachgedacht, die dann in dieser neuen Welt vorherrschen sollen. Für Selke ist es jedoch die Fragen "Wie würden die Menschen dort leben?" genau das eigentlich Faszinierende.

Gesellschaft ist "utopiemüde"

Generell attestiert Selke der Gesellschaft eine "Utopiemüdigkeit": "Es wird nur das Altbekannte variiert und als neu verkauft." Dabei sei zukunftsrobustes Handeln notwendig. "Wir haben alle Zeichen lange ignoriert. Wir waren ein bis eineinhalb Generationen lang in einem schönen Flug und haben technische Fortschritte und wirtschaftliches Wachstum genossen", so Selke. "Aber mittlerweile verdichten sich die Anzeichen für globale Verteilungswettkämpfe, politische Krisen und den ökologischen Klimawandel." Gleichzeitig fehle uns die Beharrlichkeit, um generationenübergreifende Ziele wie etwa früher der Bau der Pyramiden oder Kathedralen zu verfolgen.

Alltag und Überregulierung

Vielleicht liegt diese Müdigkeit auch daran, dass sämtliche großen Utopien, die nicht nur in der Literatur diskutiert, sondern in die Realität umgesetzt wurden, scheiterten. Um zu verstehen, woran das lag, analysierte Selke zahlreiche dieser Projekte, in denen meist 200 bis 300 Menschen versuchen, anders -zum Beispiel hierarchiefrei oder ganz ohne Geld -zu leben.

Als Ursache für das Misslingen fand Selke gleich mehrere Gründe. So beginnen neue Utopien immer mit Euphorie: Es herrscht die Magie der Ankunft vor, es gibt einen großen Plan. Doch nach und nach zieht der Alltag in die neue Welt ein. Das bedeutet Konflikte, Spannungen und damit letztlich das Scheitern an den eigenen Idealen. "Diese Projekte sind gut gemeint und idealistisch gedacht, aber gerade in der Überbelichtung des Guten ist das Misslingen vorprogrammiert", sagt Selke.

Ein weiterer Grund ist laut Selke oft die Überregulierung. "Die Gründer schrieben den anderen Menschen sehr genau vor, wie sie zu leben haben. Aber Effi zienz ist für Menschen auf Dauer keine Lebensform." Zudem sind utopisch denkende Menschen "ganz eigene Charaktere, Idealisten, die oft keine anderen Menschen neben sich gelten lassen". "Sie sind zwar visionär, aber rücksichtslos im Umgang mit anderen, die ihnen in den Weg kommen", erklärt er.

Erschwerend kommt für Selke die Biografie jedes einzelnen dazu. "Die Menschen wollen neu anfangen", sagt der Soziologe, "doch das schaffen sie aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen, die sie stark prägen, nicht."

Dinge probieren und auch scheitern

Selke begeistert allerdings, dass vor allem die jungen Menschen wieder Fragen stellen und z. B. mit Fridays For Future etwas verändern wollen. Viele zu lange herrschte eine "Sicherheitsverliebtheit" und "Vollkaskomentalität" vor. Es wurde viel beklagt und gejammert, aber niemand war bereits, wirklich etwas dagegen zu unternehmen -und möglicherweise zu scheitern. "Es ist aber nicht schlimm, zu scheitern", ist Selke überzeugt. "Es muss viel mehr möglich sein, Dinge zu probieren und zu schauen, ob es funktioniert oder nicht. Es immer wieder zu versuchen, ist notwendig zum Aufbrechen von Standardwelten."

Für sich persönlich hat der Soziologe jedenfalls eine Testfrage entwickelt: "Wenn ich möchte, dass in meinem Leben etwas anders wird, was ist das Erste, was ich tun müsste dafür? Das ist manchmal gar nicht so einfach. Aber es ist interessant, was passiert." Er empfiehlt daher: "Nicht im eigenen Alltag klagen und reden, was zu tun wäre, sondern es machen."

Der Beitrag erschien ursprünglich im News 16/2022.

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