"Unser Job war unser Leben"

Die Geschichten hinter der Arbeitslosigkeit

Eine Million Menschen sind in Österreich arbeitslos oder in Kurzarbeit - das ist das neue Gesicht von Covid. Doch es sind mehr als Jobs, die hier verloren gehen. Bei ATB in Spielberg etwa sind es ganze Lebenswelten.

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Schicksale - "Unser Job war unser Leben" © Bild: Heinz Stephan Tesarek/News

Michael Leitner, 62, genannt Michl, ist der, der hier nach dem Ende das Licht abdreht. Das Ende, das ist hier kein Punkt, sondern ein Prozess: Im vergangenen Sommer wurde beim Motorenerzeuger ATB im obersteirischen Spielberg vom chinesischen Eigentümer Wolong die Liquidation der gesamten Produktion verlautbart, von 400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wurden 360 gekündigt. Nur ein paar von ihnen passieren noch vereinzelt die Sicherheitssperren, um die Auflösung des seit 1973 bestehenden Betriebes abzuwickeln.

Das Firmengelände mit seinen Fertigungshallen und Bürotrakten hat die Dimension eines mittleren Dorfes, irgendwie noch lebensnah und doch so leer und verlassen. Und mittendrin -gerade über den Vorplatz, quer durch die Eingangshalle, vorbei an der Werkskantine mit ihrer verrammelten Theke, dann links durch einen dunklen Gang, dann rechts -sitzt der Michl in seinem Büro und hält einsam die Stellung. Er ist hier seit gut dreieinhalb Jahrzehnten der Obmann des Arbeiterbetriebsrates, doch im Sommer ist auch für ihn nach insgesamt 45 Dienstjahren Schluss. "Denn dann gibt es hier keinen einzigen Arbeiter mehr, was sollte ich dann noch hier?", fragt er sich halblaut.

Erst kam Corona, dann die Massenarbeitslosigkeit, etwa eine Million Menschen sind derzeit in Österreich ohne Job oder in Kurzarbeit - Tendenz steigend; und landauf, landab, so scheint es, dient das Virus den großen Konzernen als Alibi dafür, langfristig ausgeheckte Restrukturierungen rasch durchzupeitschen: Bei Swarovski in Wattens werden mit einem Mal 1.000 Arbeitsplätze gestrichen, in Steyr bei MAN wohl an die 2.000, in Spielberg bei ATB immerhin 360.

Seit Khomeini und Kreisky

Arbeitslosigkeit, das ist das neue Gesicht von Covid. Und bald, sagt der Michl, werde wohl jeder irgendwen kennen, der durch Corona seinen Job verloren hat. Doch es sind mehr als Arbeitsplätze, die hier verloren gehen -es sind ganze Arbeitswelten.

Heidi, 58, und Elisabeth, 55, sind an diesem ersten Montag im Februar ein allerletztes Mal auf dem ATB-Gelände. Gekündigt wurden sie, wie all die anderen, bereits im vergangenen Spätsommer, mit Ende Jänner endete ihr Dienstverhältnis nun auch formal. In Summe haben die beiden 76 Jahre hier in Spielberg gearbeitet. Als Heidi im Jahr 1979 als Teenager zum allerersten Mal hinter dem Fließband stand, hatte Ayatollah Khomeini soeben die Islamische Republik Iran ausgerufen, Margaret Thatcher als erste Frau ihr Amt als Premierministerin angetreten und Bruno Kreisky seine letzte absolute Mehrheit geholt. "Ich weiß nicht, ob die jungen Leute das heute noch verstehen können - aber die ATB hier in Spielberg, die war meine Welt", sagt Heidi. Und Elisabeth nickt. Sie will auch was sagen, doch das geht momentan nicht, denn die Tränen, die sie schluckt, ersticken die Stimme.

© Heinz Stephan Tesarek/News Heidi, 58, seit Ende Jänner Arbeitslos

Ihr Leben -nun haben Heidi und Elisabeth noch einmal im Büro von Betriebsrat Leitner Platz genommen, nicht mehr als Kolleginnen, sondern als Gäste, die Abschied nehmen. Bereits Elisabeths Vater war hier in der Firma ein geachteter Kollege - als er Ende der Siebziger völlig unerwartet starb und die Familie mit fünf Kindern inmitten eines Rohbaus zurückblieb, spendete jeder der damals noch gut 2.000 Mitarbeiter zehn Schilling für Elisabeths Familie. Die 20.000 Schilling sicherten der Mutter, den Geschwistern und ihr das Überleben. Hart gearbeitet wurde in dieser kleinen, hermetischen Welt des Schichtbetriebs, hier wurden Freundschaften geschlossen, Ehen gestiftet. Und wenn, wie in Elisabeths Fall, auf einmal der Sohn ins Spital musste, dann sorgte Betriebsrat Michl dafür, dass sie umgehend freigestellt wurde. Dann und wann machten sich die "ATBler" aber auch alle gemeinsam auf den Weg, um die etwas größere, etwas weitere Welt zu erkunden: An den Neusiedler See zum Radfahren, in die Excalibur City im tschechischen Grenzland zum Shoppen, "Elisabeth", "Falco", "Phantom der Oper", jedes Jahr eine Wien- Fahrt mit dem krönenden Besuch eines Musicals -die Betriebsausflüge, sagt Heidi, waren legendär. "Genau das Richtige für uns, denn jedes Jahr Urlaub, das war für viele von uns nicht drinnen."

Und jetzt noch weniger, denn nun geht es primär darum, trotz Jobverlusts weiter Häuslbauerkredite zu bedienen, Mieten und Betriebskosten zu bezahlen, Kühlschränke zu füllen. Der Altersschnitt der freigesetzten Arbeiterinnen und Arbeiter liegt bei 48 Jahren, mehr als die Hälfte ist älter als 50, und sie wissen: Am heutigen Arbeitsmarkt haben sie ihr Ablaufdatum längst überschritten.

Leere ohne Rettungsanker

Ernst ist 59, hätte noch eineinhalb Jahre bis zur regulären Pension. Nun steht er als einer der Letzten in der Montagehalle und schaut auf die stillgelegten Maschinen und Werkzeuge, die noch auf die Abholung warten. "Mit jedem Ding, das hier noch rumsteht, habe ich ein Gesicht verbunden, eine Person, die es bedient hat." Nun starrt Ernst tagtäglich ins Leere. "Und diese Leere macht dich fertig, es wirkt alles so hoffnungslos." Und weit und breit kein Rettungsanker, außer jenem, den er sich zur Zierde auf den rechten Unterarm tätowieren ließ. Wann genau, weiß er nicht mehr, jedenfalls aber in einer Zeit, in der so was wie Vollbeschäftigung noch politisch opportun war.

"Es ist so entwürdigend da hackelst du dein Leben lang hart, und plötzlich sollst du in dieser Gesellschaft gar nichts mehr wert sein", sagt Ernsts letzter Kollege, Rudolf, 54. "Ich bin körperlich noch immer gut in Schuss und will einfach nur arbeiten, nicht von irgendwelchen Almosen leben." Die Tochter und der Schwiegersohn errichten gerade ihr Eigenheim, doch Rudolf kann sie finanziell nicht unterstützen, ihnen nur an den Wochenenden seine Muskelkraft zur Verfügung stellen. "Eswäre doch normal, dass sich ein Vater daauch mit Geld beteiligt, und es tut mir echtweh, dass ich das jetzt nicht kann."

© Heinz Stephan Tesarek/News Rudolf, 54, ab Sommer arbeitslos

Seit 31 Jahren werkelt der gelernte Tischler nun als Stanzer in Spielberg, seitnunmehr 15 Jahren auch als sogenannter Einschuler. Deswegen gehört er zu den Letzten, die hier noch für ein paar Monatedie Stellung halten dürfen. Die Kollegenaus Polen, wohin die chinesischen Eigentümer die Spielberger Produktion auslagerten, muss er an den verbliebenenMaschinen anlernen: Erst muss er ihnenzeigen, wie sein Job funktioniert, dann istauch für ihn Schluss, und im polnischen Tamel und im serbischen Subotica wirdbei wesentlich wirtschaftsfreundlicherem Lohnniveau munter weiterproduziert.

Ewige Addition, fettes Minus

Dabei hatte alles so vielversprechend begonnen: Die chinesische Wolong Gruppehatte ATB mit all seinen europäischen Standorten 2011 übernommen, die steirische Spitzenpolitik und die Spielberger Belegschaf hatten Chairman Jiancheng Chen noch den roten Teppich ausgerollt, immerhin waren sich Ex Landeshauptmann Franz Vovesund Chen beim Skiweltcup in Schladming menschlich nähergekommen. Und so hatte der Spitzenmanager aus Fernostden Obersteirern auch blühende Landschaften versprochen - zumindest so was Ähnliches:

"Wir von Wolong subtrahieren nicht, wir addieren nur, dasgilt für Ergebniszahlen genausowie für Arbeitsplätze", hatte Chen auf seiner Steiermark Visite noch philosophiert: Das steirische Werk werde weiter ausgebaut, keinesfalls runtergefahren. Doch neun Jahre später steht hinter dieser Addition laut Wolong Verlautbarung ein fettes Minus: Seit 2012 habe man trotz namhafter Zuschüsse der Gesellschafter stets Verluste eingefahren. Warum?"Wegen des internationalen Erwerbsdrucks und der Corona Kirse", heißt es bei Wolong. "Wegen der vielen Outsourcing Aktivitäten", ist Betriebsrat Leitner überzeugt. Bereits im Sommer 2018, zwei Jahre vor der Schließung, hatte er sich alarmiert an die Konzernführung gewandt: "Seit mehr als zwei Jahren gelingt es nicht, die Lieferperformance von ausgelagerten und nun zugekauften Produkten zu verbessern, wodurch laufend und wiederkehrend Mehraufwendungen und kosten in unserer Produktion entstehen." Keine Antwort von der fernöstlichen Weltmacht der Additionen bis zum heurigen Sommer, als das offizielle Österreich sich von seiner ersten flächendeckenden Schließung erholte und ATB in den endgültigen Lockdown glitt.

Von der hohen Politik in Wien, namentlich von Sebastian Kurz und der damals noch promovierten Christine Aschbacher, fühlt man sich hier im Murtal schmählich im Stich gelassen. Im Betriebsratsbüro, der letzten belebten Bastion dieses weitläufigen Industriefriedhofs, hängt ein vergilbtes Polaroid an der Pinnwand: Genosse Kreisky, lässig in Leiberl und Shorts, seine Gattin Vera und zwischen den beiden Genosse Michl Leitner, aufgenommen 1987 in Kreiskys Villa auf Mallorca. 33 Jahre später und in gebührendem Abstand voneinander sitzen die Mitt-und Endfünfziger Elisabeth, Heidi, Rudolf und Ernst noch einmal auf der Eckbank von Michael Leitners Büro, und der Michl erzählt von damals.

Kurz und der lange Weg

Kennengelernt habe der Betriebsrat den Kanzler auf einer Veranstaltung in Wien, dort habe er der roten Legende von seinem bevorstehenden Balearen-Urlaub erzählt, worauf ihn diese spontan eingeladen habe. Und drei, vier Wochen später saß er dann tatsächlich bei den Kreiskys zum Nachmittagskaffee. Unmittelbar nach ihm, erinnert sich der Michl, habe der schwedische Außenminister seine Aufwartung gemacht, unmittelbar vor ihm war Jassir Arafat dran gewesen. "Da hat mich der Kreisky im lockeren Plausch gefragt, ob bei uns in Spielberg eh alles in Ordnung ist." Und das war es so weit -bis zum letzten Sommer.

Am 3. August 2020 schrieb Michael Leitner an Sebastian Kurz: "Wir bitten Sie inständig, uns kurzfristig einen Termin einzuräumen, da schon in den nächsten Tagen durch das Abtransportieren von Maschinen richtungsentscheidende Maßnahmen getroffen werden." Knapp einen Monat später, am 1. September, reagierte ein Kabinettsmitarbeiter: "Das Bundesministerium für Wirtschaft hat Ihnen einen Gesprächstermin für Anfang August angeboten, welcher von Ihnen abgesagt wurde." Leitners Antwort: "Mein Kontakt mit Frau R. vom Wirtschaftsministerium war folgender: Frau R. hat mir ( ) mitgeteilt, dass ein Gesprächstermin bei der Frau Minister nicht möglich sei, weil diese zu dieser Zeit auf Urlaub war." Und so wurde es in Spielberg Herbst, dann Winter.

Durch einen dunklen Gang, vorbei an der Werkskantine, quer durch die Eingangshalle und dann gerade über den Vorplatz: Am 1. Februar 2021, kurz nach 14 Uhr, verlassen Heidi und Elisabeth zum letzten Mal den Ort, der ihr Leben war. Draußen hinter der Sicherheitssperre lächelt noch ein wenig die Wintersonne. Es ist kalt.

David Pesendorfer ist selbst frischgebackener Fünfziger und fragt sich: Wird für ältere Arbeitslose in Österreich genug getan? Schreiben Sie mir bitte: pesendorfer.david@news.at