UNHCR: Flüchtlinge als Chance für Erstaufnahmeländer

Türk: "Humanitären Bereich und Entwicklungsbereich zusammenführen"

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"Der Großteil der Flüchtlinge, rund 84 Prozent, befindet sich in Entwicklungs- und Schwellenländern", sagte Türk. So habe Uganda beispielsweise eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Durch die große Anzahl von Flüchtlingen weltweit sei das Thema nun auch für die UNO zur politischen Priorität geworden. Alle 193 UNO-Mitgliedsstaaten hätten 2016 in New York auf Staats- und Regierungschefebene eine Erklärung verabschiedet, die sowohl einen Pakt zur Migration als auch für Flüchtlinge vorsehe. "Für uns ist es eine ganz große Gelegenheit, dass man die Art der Verantwortungsteilung im Flüchtlingsbereich, die bisher immer recht ad hoc behandelt wurde, genauer definiert", so der Österreicher.

Bereits in der 1951 verabschiedeten Genfer Flüchtlingskonvention sei verankert, dass Länder, die durch ihre geografische Lage stärker von Flüchtlingsbewegungen betroffen seien, unterstützt werden müssten. Die bisherigen Initiativen seien jedoch allesamt "situations- und kontextabhängig" und nie "umfassend" gewesen. "Die große Chance ist jetzt, dass die Definition der konkreten Unterstützung der am meisten betroffenen Länder als globale Verantwortung gesehen wird", betonte Türk. Dies sei das Kernthema der Verhandlungen des Globalen Paktes für Flüchtlinge, die der stellvertretende Hochkommissar leitet. Der Pakt sei jedoch nicht völkerrechtlich verbindlich. "Die Quadratur des Kreises ist es, den Ländern Versprechen abzuringen, die die Aufnahmeländer ernst nehmen können", fügte er hinzu.

Der Pakt soll voraussichtlich Ende 2018 verabschiedet werden und sehe auch die stärkere Integration von Flüchtlingen in die Entwicklungsprogramme der Aufnahmeländer des globalen Südens vor. "Sie können sich vorstellen, dass das für die Entwicklungsländer eine große Herausforderung ist, denn sie wollen die Entwicklungszusammenarbeit für ihre eigenen Staatsangehörigen nutzen", so Türk. Stattdessen sollen die traditionell marginalisierten Grenzgebiete, in denen Flüchtlinge meist ankommen würden, von der Ankunft der Flüchtlinge profitieren.

"Wenn Entwicklungsländer die Ankunft von Flüchtlingen als Chance sehen und die unterentwickelten Gebiete im Land aufgrund der Aufnahme von Flüchtlingen entwickeln können, können sie auch die Aufnahmegesellschaften entwickeln", erörterte er. Die Weltbank habe dafür Finanzmittel aus der Entwicklungszusammenarbeit für die besonders betroffenen Länder zur Verfügung gestellt.

"Wenn man die großen Flüchtlingslager der Welt von Anfang an nicht als humanitäre, karitative Angelegenheit, sondern als Entwicklungspol gesehen hätte, hätte man viele heutige Probleme, vor allem im Sicherheitsbereich, lösen können", so der Verhandlungsführer. "Die Länder müssen auch ihre Politiken ändern um eine andere Vision zu schaffen, wie man mit Flüchtlingen umgeht", fügte Türk hinzu, der an einen Paradigmenwechsel glaubt. "Das ist genau die Zusammenführung des humanitären Bereiches und des Entwicklungsbereiches, die auch durch den Pakt beabsichtigt wird", erklärte er.

Neben der Regierungen der Mitgliedsstaaten spielten im Pakt auch deren Gesamtgesellschaften eine große Rolle. "Wie in Österreich soll sich auch die Zivilgesellschaft beteiligen", forderte Türk. "Wir haben (während der Flüchtlingskrise, Anm.) 2015 gesehen, was sie geleistet hat, denn das Verständnis und die humanitäre Hilfe waren wichtige Beiträge", erklärte er. Auch der Privatsektor und die Gemeinden sollen stärker einbezogen werden: "Städte und ländliche Gebiete sind oft die ersten, die mit den Flüchtlingen zu tun haben, und sollen besser vernetzt werden, so dass sie Erfahrungen austauschen können", sagte der stellvertretende Hochkommissar.

Türk erhofft sich von Österreich Kooperation bei der Um- und Neuansiedlung von Flüchtlingen. "Es hat uns gefreut, dass 1.900 Menschen im Rahmen des humanitären Aufnahmeprogramms für syrische Flüchtlinge von 2014-2017 in Österreich ein neues Leben anfangen konnten - das hat Erstaufnahmeländer entlastet", sagte er.

Für den stellvertretenden UNHCR-Chef sind die Verhandlungen auch wichtig, um die Erfahrungen der Flüchtlingskrise von 2015, bei der eine Million Menschen nach Europa kamen, im Bewusstsein zu behalten. "2015 war ein Weckruf, weil man sich in den europäischen Ländern gedacht hat, dass der Syrienkonflikt nie Auswirkungen auf Europa haben wird", sagte er. Ein Pakt, wie er jetzt verhandelt wird, sei bereits vor 30 Jahren angemessen gewesen. "Die verbesserte Aufklärung, Erkenntnis und Wahrnehmung zeigt, dass uns Flüchtlingskrisen alle betreffen können und dass die Länder, die aufgrund ihrer geografischen Lage ganz besonders davon betroffen sind, tatkräftig unterstützt werden müssen", betonte er.

( Das Gespräch führte Martin Auernheimer/APA. )

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