Alarmierende Befunde zu
Antisemitismus in Europa

Auch mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust sind europäische Juden in ihrem Alltag mit Antisemitismus konfrontiert.

von Umfrage - Alarmierende Befunde zu
Antisemitismus in Europa © Bild: Tobias SCHWARZ / AFP

Vandalismus, Beleidigungen, Drohungen und sogar Gewaltverbrechen machten ein sorgenfreies jüdisches Leben in der EU unmöglich, so das Fazit des zweiten Antisemitismus-Berichts der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA), der am Montag in Brüssel vorgestellt wurde.

2012 war die erste Antisemitismus-Erhebung der Grundrechteagentur durchgeführt worden, allerdings noch ohne Daten aus Österreich. Seit damals habe der Judenhass für 89 Prozent der Befragten zugenommen - eines der markantesten Ergebnisse der Studie. 85 Prozent der Befragten gaben an, sie hielten Antisemitismus für das derzeit größte gesellschaftliche Problem in ihrem Land. Als häufigstes Forum für antisemitische Statements wurde von 80 Prozent das Internet genannt.

Es gebe insgesamt, formulieren die Studienautoren, starke Anzeichen für eine "Normalisierung des Antisemitismus". Das bedeute, dass manche Vorfälle gar nicht mehr als judenfeindlich wahrgenommen würden, weil sie so oft zu beobachten seien. "Die Studienergebnisse legen nahe, dass Antisemitismus die öffentliche Sphäre durchdringt, wodurch negative Stereotype gegenüber Juden reproduziert und verfestigt werden. Jüdisch zu sein allein erhöht die statistische Wahrscheinlichkeit, mit einer Reihe von negativen Erlebnissen konfrontiert zu sein", heißt es in dem Bericht.

Umfrage-Ergebnisse

28 Prozent der Befragten seien im vergangenen Jahr selbst zumindest einem antisemitischen Angriff ausgesetzt gewesen. 38 Prozent überlegten, ob sie wegen zunehmender Repressionen auswandern sollten. Die drei am häufigsten erlebten Hetzparolen: "Israel agiert gegen Palästina wie die Nazis gegen Juden" (51 Prozent), "Juden haben zu viel Macht" (43 Prozent) und "Juden nutzen den Holocaust zum eigenen Vorteil aus" (35 Prozent).

Die Daten wurden von Mai bis Juni 2018 mittels Online-Befragung von 16.395 Personen, die sich selbst als jüdisch identifizieren, aus zwölf EU-Staaten gewonnen. In diesen Ländern - Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Italien, Niederlande, Polen, Spanien, Schweden und Großbritannien - sind laut aktuellen Daten 96 Prozent der jüdischen Bevölkerung innerhalb der EU zuhause. Aus Österreich beteiligten sich 525 Personen mit Selbstidentifikation als jüdisch.

Ländervergleich

Im Ländervergleich zeigt die Studie im Wesentlichen ein ähnliches Niveau von Antisemitismus in Europa. Österreich liegt beim Antwortverhalten nahe beim Durchschnitt, tendenziell leicht darunter. Das heißt, dass die Befragten aus Österreich die Situation im Großen und Ganzen etwas positiver bewerteten. So war für 73 Prozent Antisemitismus das größte Problem in Österreich (gegenüber 85 Prozent gesamt). 75 Prozent meinten, der Antisemitismus in Österreich habe in den vergangenen fünf Jahren zugenommen (89 Prozent gesamt). Am meisten negative Einschätzungen gab es bei diesen beiden Aussagen von Betroffenen aus Frankreich.

Die Befragung wurde Mai und Juni 2018 durchgeführt, Interessierte entschlossen sich selbst zur Teilnahme. Es sei unwahrscheinlich, erklärte die EU-Grundrechteagentur, dass die erhaltene Stichprobe der jüdischen Gesamtbevölkerung in Europa hinsichtlich demografischer Merkmale - wie Alter, Geschlecht, Bildung etc. - entspricht. Es gebe gar nicht genug verlässliche Quellen, um die Stichprobe entsprechend gestalten zu können. Die Studie kann somit nicht als statistisch repräsentativ gelten. "Dennoch sind die Ergebnisse verlässlich und robust und (...) die umfassendste Datensammlung zu Antisemitismus-Erfahrungen in der EU", wurde festgehalten.

Timmermans tief besorgt

Der Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans hat sich tief besorgt über den Antisemitismus-Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte gezeigt. Timmermans betonte am Montag in Brüssel, "es gibt kein Europa, wenn Juden sich nicht in Europa sicher fühlen".

Es sei von größter Bedeutung, dass diese "Geißel" des Antisemitismus stark und gemeinsam bekämpft werde. Es seien in den letzten Jahren zwar viele Schritte gesetzt worden, aber diese würden nicht genügen, sagte Timmermans. Nächstes Jahr werde Bilanz über den Kampf gegen Antisemitismus gezogen.

EU-Justizkommissarin Vera Jourova erklärte, sie sei zutiefst betrübt über die Ergebnisse des Berichts der Grundrechteagentur. "Ich bin tieftraurig, dass neun von zehn Juden in Europa erklärten, dass Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat. Die Jüdische Gemeinde muss sich sicher und zuhause in Europa fühlen können, egal ob sie sich auf dem Weg in die Synagoge befinden oder online surfen". Es gelte, gegen die Leugnung des Holocaust vorzugehen, und zu garantieren, dass Juden die volle Unterstützung der Behörden haben.

Timmermans verwies auch auf die oft beschworenen christlichen Werte in Europa. "Dieser Appell der christlichen Werte sollte auch klar machen, dass es Teil der christlichen Werte ist, sich für immer von Antisemitismus zu distanzieren". Angesprochen auf Probleme mit Antisemitismus in Ungarn unter Präsident Viktor Orban sagte Timmermans, er rufe dazu auf, jede Art von Kampagne zu vermeiden, die als antisemitisch gesehen werden könne. Orban sollte klarer agieren.

Gleichzeitig unterstrich Timmermans, dass er nicht akzeptieren könne, wenn jede Kritik an Aktionen der israelischen Regierung als antisemitisch bezeichnet werden könne.

Edtstadler fordert Konsequenzen

Die österreichische Innen-Staatssekretärin Karoline Edtstadler (ÖVP) hob die Anstrengungen des österreichischen EU-Ratsvorsitzes in Hinblick auf den Schutz jüdischen Lebens in Europa hervor und begrüßte die Erklärung der EU-Innenminister zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Entwicklung eines gemeinsamen Sicherheitskonzepts zum besseren Schutz jüdischer Gemeinschaften und Einrichtungen in Europa.

"Wir können nicht tolerieren, dass sich Jüdinnen und Juden in Europa nicht mehr sicher fühlen. Antisemitismus entsteht nicht von heute auf morgen. Wir müssen wachsam sein, vor allem auch in der digitalen Welt, denn aus Worten können Taten werden", betonte Edtstadler.

IKG: Gesamte Gesellschaft ist gefordert

Angesichts des alarmierenden Antisemitismus-Berichts der EU-Grundrechteagentur FRA sieht IKG-Präsident Oskar Deutsch die gesamte Gesellschaft gefordert. "Judenfeindlichkeit ist ein Problem der gesamten Gesellschaft", sagte der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde am Montag laut einer Aussendung.

Der Kampf gegen Antisemismus sei eine "gesamtgesellschaftliche Aufgabe". Juden seien "zwar unmittelbar von Antisemitismus betroffen, aber wir lassen uns nicht so einfach zu Opfern machen. Wir wehren uns gegen Anfeindungen, Hass und Hetze", betonte Deutsch. Zu lange seien die Warnungen jüdischer Repräsentanten ignoriert worden. Deutsch: "Und zu oft wird Antisemitismus und der Kampf dagegen politisch vereinnahmt. Weder taugen Rechtsextremisten als Verbündete im Kampf gegen Islamisten, noch sind linksextreme Israel-Hasser Freunde jüdischer Gemeinden in Europa."

Die IKG weist in diesem Zusammenhang auf das Handbuch "An End to Antisemitism" des European Jewish Congress (EJC) hin. Dieser Katalog enthalte Empfehlungen für den Kampf gegen Antisemitismus (https://anendtoantisemitism.univie.ac.at). Außerdem unterstrich Deutsch die Bedeutung der vorige Woche im EU-Ministerrat beschlossenen Erklärung für den Schutz jüdischer Gemeinden in Europa. Diese könne ein Meilenstein sein, wenn den Worten Taten folgen.