Hilfe, die ankommt

Mit einer restriktiven Flüchtlingspolitik hat Sebastian Kurz Wahlen gewonnen. Karl Nehammer hat den Kurs frühzeitig für Menschen aus der Ukraine geändert - und steht damit auf der richtigen Seite der Geschichte.

von Kolumne - Hilfe, die ankommt © Bild: Privat

Österreich hat einen neuen Kanzler. Drei Monate, nachdem Karl Nehammer (ÖVP) das Amt übernommen hat, ist das nicht mehr zu übersehen. Bisher musste sich der 49-Jährige ausschließlich mit Problemen herumschlagen, die seine Vorgänger zurückgelassen hatten. Gestaltungsmöglichkeiten gab es so gut wie keine. Bei der Pandemie ist es nötig, einen Ausweg aus der Impfpflicht zu finden. Sonst müssen Massen bestraft werden, was wiederum Landeshauptleuten der eigenen Partei bei kommenden Landtagswahlen schaden könnte. Das darf nicht sein. Zusätzlich muss sich Nehammer mit Korruptionsaffären herumschlagen, die in die Zeit von Sebastian Kurz (ÖVP) zurückgehen. Im Parlament läuft ein Untersuchungsausschuss dazu, und auch die Partei selbst wird von der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft als Beschuldigte geführt.

Seit dem Morgengrauen des 24. Februar wird all das jedoch überlagert, gibt es Krieg in Europa. Karl Nehammer ist als Regierungschef mit einer Herausforderung konfrontiert, die bis dahin nicht absehbar war und die in ihrer Dimension zumindest so groß ist wie die Coronakrise. Doch Nehammer geht bisher in einer Art und Weise damit um, dass ihm auch von Kritikern Respekt gezollt wird. Vor allem hat er frühzeitig eine Kursänderung vollzogen, die in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden kann: Österreich hat eine völlig neue Flüchtlingspolitik.

Wendepunkte 2015 und 2022

2015 stand für den bisher letzten Wendepunkt: Seit dem Jahr, das mit einer großen Flüchtlingswelle gleichgesetzt wird, galt die Devise "Genug ist genug". Zuvor hatte sich Sebastian Kurz als Integrationsminister noch darüber beklagt, dass es hierzulande "zu wenig Willkommenskultur" gebe. Danach begann er, sich gegen Mittelmeer- und Balkanrouten ebenso auszusprechen wie gegen "Zuwanderung ins Sozialsystem". Das war der Schlüssel zu seinem Erfolg bei der Nationalratswahl 2017. Dieser Urnengang stand "im Zeichen der Flüchtlingskrise", wie der Politikwissenschaftler Fritz Plasser analysierte.

Jetzt gibt es einen weiteren Wendepunkt. Karl Nehammer bekennt sich ausdrücklich zur Aufnahme von Flüchtlingen aus der Ukraine. Er lässt das Heldentor blau-gelb, also in den Farben das Landes, erstrahlen, um Solidarität mit der Bevölkerung ebendort zu bekunden, die russischen Angriffen ausgesetzt ist. Das sind Zeichen, die für eine fundamentale Änderung stehen - und die auch der Stimmungslage in Österreich entsprechen.

Als der Staat die Kontrolle verlor

2015 hatte es Entwicklungen gegeben, die man nicht vergessen sollte: Damals kamen plötzlich Zehntausende Männer, Frauen und Kinder aus Syrien und Afghanistan. Sie hatten sich nach Berichten auf den Weg gemacht, dass Deutschland unter Angela Merkel für alle offen sei, die einen sicheren Hafen suchen. In Österreich war niemand darauf vorbereitet, am südsteirischen Grenzübergang Spielfeld wurden Absperrungen überrannt. Der Staat hatte die Kontrolle verloren. Einprägsame Bilder davon wirkten für sehr viele Bürgerinnen und Bürger unerträglich.

Das hatte Einfluss auf die Politik: Die Freiheitlichen, die als Erste und am lautesten forderten, die Grenzen zu schließen und Flüchtlinge abzuweisen, erfuhren wachsenden Zuspruch. Ihr Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer hätte es 2016 beinahe in die Hofburg geschafft. In Sonntagsfragen für eine Nationalratswahl lag die Partei von Heinz-Christian Strache vorne. Bis Kurz kam, diese Forderungen mit etwas anderen Worten übernahm und siegte. Flüchtlinge wurden fortan gerne als Migranten bezeichnet. Das unterstellt, dass sie ihre Heimat nur aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben, also nicht schutzbedürftig sind.

»Die Bereitschaft, in unmittelbarer Nähe durch eine militärische Übermacht bedrohte Menschen aufzunehmen, wird von einer Welle der Zustimmung getragen«

Ausgerechnet Karl Nehammer spielte als Innenminister ab Jänner 2020 eine tragende Rolle bei der Umsetzung dieses Zugangs. Es ging darum, im Falle des Falles auch gut integrierte Minderjährige abzuschieben und selbst aus erbärmlichsten Verhältnissen auf griechischen Inseln keine Kinder zu retten. Als Familienvater falle ihm das nicht leicht, betonte Nehammer einmal, alles andere wäre jedoch ein "falsches Signal". Auch in den ersten Wochen als Kanzler blieb er dabei: Man habe schon so viele Asylanträge angenommen, erwiderte er nach Weihnachten auf einen Appell des Papstes, mehr zuzulassen. Das sei "keine Frage der bösen Absicht, sondern der Machbarkeit", so Nehammer.

Warum ist jetzt alles anders? Die Antwort ist vielschichtig. Flüchtlinge stammten in den vergangenen Jahren zu einem sehr großen Teil aus entfernten, überwiegend muslimischen Ländern. Befragungen des GfK-Austria-Instituts zur Nationalratswahl 2017 zeigen, dass die Verbreitung eines radikalen Islam besonders bei ÖVP- und FPÖ-Anhängern ein großes Thema war. Ein größeres noch als die Sorge, dass die Kriminalität zunehmen oder die Arbeitslosigkeit steigen könnte. Die Parteien versuchten nicht, dagegenzuwirken, sondern es zu instrumentalisieren.

Europa in Solidarität geeint

Bei Ukrainerinnen und Ukrainern besteht eine grundsätzliche Anteilnahme mit ihrem Schicksal, ganz Europa ist in seiner Solidarität geeint wie noch nie. Gerade auch als bekennender Anhänger der europäischen Integration fügt sich Nehammer hier ein.

Im konkreten Fall verweist er selbst auf die geografischen Verhältnisse. Bei der Ukraine sei es anders als bei Afghanistan, sie sei Wien näher als Bregenz: "Das heißt, wir reden hier von Nachbarschaftshilfe." Nachbarschaftshilfe, wie man sie in den 1950er-Jahren in der Ungarn-Krise, in den 1960er-Jahren nach der Niederschlagung des Prager Frühlings und in den 1990er-Jahren beim Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens geleistet habe. Das weckt positive Erinnerungen, die im Unterschied zu 2015 nicht für ein überfordertes Österreich stehen, sondern für ein starkes.

Bei einem Parteikollegen Nehammers ist diese Kursänderung erst mit Verzögerung angekommen. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka bewies mit seiner Äußerung, dass die Ukrainer in ihrem Land bleiben müssten, um es zu verteidigen, auch, dass er noch nicht auf der Höhe der Zeit war. Gemeinsam mit seiner rhetorischen Frage in einem "Club 3"-Gespräch mit "profil","Kurier" und "Krone", was gewesen wäre, wenn alle Österreicher nach 1945 geflohen wären, musste er sie schließlich als "unpassend" zurückziehen und sich entschuldigen.

Flüchtlingshilfe als Verpflichtung

In der Bevölkerung wird Nehammer für den neuen Weg nicht werben müssen: Er entspricht einer bemerkenswerten Haltung einer Mehrheit der Bevölkerung. In Tirol erklärten beispielsweise schon im Herbst 62 Prozent, dass es prinzipiell eine Pflicht sei, Flüchtlinge aufzunehmen und menschenwürdig zu behandeln. Ähnlich viele fanden, dass das Zusammenleben gut funktioniere, so das Sozialforschungsinstitut SORA, das derartige Erhebungen regelmäßig durchführt.

Die Integrationsexpertin Eva Grabherr überrascht das nicht: Sie beobachtet schon länger eine Diskrepanz zwischen politischer und medialer Darstellung einerseits sowie der Wahrnehmung vieler Menschen andererseits. Gerade ab 2015 verbreitete und auch befeuerte Ängste sind kleiner geworden oder haben sich aufgelöst. In der Praxis läuft die Integration nicht reibungslos, aber besser als erwartet.

Doch eben nicht nur darauf kann Nehammer setzen: Die Bereitschaft, in unmittelbarer Nähe durch eine militärische Übermacht bedrohte Ukrainerinnen und Ukrainer aufzunehmen, wird von einer Welle der Zustimmung getragen. Vom Boden- bis zum Neusiedlersee gibt es keine Diskussion darüber, es werden längst Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen.

Johannes Huber, Journalist und Blogger zur österreichischen Politik, www.diesubstanz.at