Die Übergesiedelten

Mobilität als Chance und Albtraum.

von Peter Sichrovsky © Bild: News/Ricardo Herrgott

Letzte Woche bin ich übersiedelt, von einer größeren in eine kleinere Wohnung in Wien, aus einem größeren Arbeitszimmer in ein kleineres. Seit ich das Haus meiner Eltern verlassen hatte, war es der 24. Umzug in acht verschiedenen Ländern. Als an der neuen Adresse die beiden Sofas im Schlafzimmer standen, unser Bett einem anderen Kunden geliefert wurde und die Kartons mit Teller, Besteck und Gläser statt in der Küche im Keller gut verstaut waren, sagte ich zu meiner Frau: "Das ist meine vorletzte Übersiedelung." "Wie meinst du das?", fragte sie. "Für die nächste brauch ich nur eine Kiste", antwortete ich und lachte. Sie fand es weniger lustig.

Begonnen hatte es am Rosenhügel, im 12. Wiener Bezirk. Kurz nach der Matura erklärte ich meinen Eltern, auf jeden Protest vorbereitet, dass ich die Absicht hätte auszuziehen. Meine Mutter reagierte erstaunlich ruhig und gefasst. Meinen Vater interessierte es nicht. Ich fand eine winzige Wohnung in Favoriten gegenüber einer Kaffeefabrik. An manchen Tagen, je nach Windrichtung, hätte ich den braunen Staub auf dem Fensterbrett in einer Tasse mit heissem Wasser aufgießen können.

Hietzing

Am Abend bevor ich auszog, sagte meine Mutter: "Ich helfe dir gerne, deine Sachen zu packen und freu mich, wenn du sonntags zum Essen kommst, aber bring keine Tasche." Am nächsten Tag übernahm mein jüngerer Bruder das Zimmer, in dem ich Kindheit und Jugend verbracht hatte. Ein Raum so lang wie das Bett, daneben ein kleiner Holztisch und ein Bücherregal, im Obergeschoß eines schmalen Reihenhauses mit derart dünnen Wänden, dass meine Mutter, in der Küche das Abendessen vorbereitend, in ihrem noblen Hietzinger Dialekt einmal ausrief: "Der Herr Nachbar hat noch immer Durchfall, der sollte wirklich endlich zum Arzt gehen."

In Wien wechseln etwa 500 Menschen täglich ihre Wohnung. Das sind 200.000 Übersiedelungen pro Jahr. Hunderte Unternehmen konkurrieren um diese Aufträge, und nahezu jeder hatte schreckliche und weniger schreckliche Erfahrungen mit Umzugsfirmen. Der Wechsel des Wohnortes hat in Wien eine besondere Bedeutung. Man liebt sein 'Grätzl', wie Wiener und Wienerin ihre Umgebung beschreiben. Sie gewöhnen sich an die schimpfenden Nachbarn, brauchen nicht auf die Uhr zu sehen, wenn der Pensionist von gegenüber seinen Dackel ausführt, täglich um sieben Uhr pünktlich. Der Wirt um die Ecke wird nie die Tischdecke nach jedem Gast, sondern nur nach jedem zweiten oder dritten wechseln, und der türkische Gemüse-und Obstladen verkauft Samstagnachmittag eine Stunde vor Geschäftsschluss alles zum halben Preis, wenn auch ein Drittel davon bereits halb verfault ist.

Amerika

Innerhalb des Gürtels geht es mehr um das Stammkaffe, den Bio-Laden, alternative Kindergärten und den Bäcker, der die Semmel mit der Hand formt und für einen Laib Brot mehr verlangt, als der Chinese nebenan für ein Mittagsmenü. Widersprüchliche 'Grätzl' liegen oft eng nebeneinander wie die türkisch/serbische Umgebung des Brunnenmarktes im 16. Bezirk, mit dem besten Lammfleisch und 50 verschiedenen Joghurts, und das 'Grätzl' des Kutschkermarktes, nur wenige Minuten entfernt im 18. Bezirk, wo die Upperclass unter den warmen Lampen im Freien frisch zubereiteten Hummer genießt. Von all den Übersiedelungen in Wien bleiben acht Prozent in ihrer unmittelbaren Umgebung, 27 Prozent verlassen den Bezirk nicht.

Die heutige Form des Umzugs ist erst 200 Jahre alt, begann in Amerika, als die ersten Einwanderer beschlossen, den Westen zu besiedeln. Mehrere Familien schlossen sich zusammen und beauftragten eine 'Moving Company', ihre Habseligkeiten auf Pferdewagen zu verstauen. Die Verteidigung gegen angreifende Indianer ('Native Americans') und wilde Tiere war im Transportvertrag inbegriffen. Mit dem Bau des Eisenbahnnetzes veränderte sich der Transport. Die Möbel wurden mit Pferdewagen in Lagerhallen transportiert, dort fachmännisch verpackt, zu den Bahnhöfen und per Bahn zu den Zielorten gebracht und zugestellt. Die ersten Unternehmen formierten sich, die ein komplettes Service anboten. Rund um die Bahnhöfe entstanden Lagerhallen, um die Wege abzukürzen, und viele Transportunternehmen, die seit dem Mittelalter Waren weltweit verteilten, stellten auf Übersiedelungen um. 1903 wurde in den USA "Bekins" gegründet, das erste Unternehmen, das mit Lkw Umzüge organisierte.

Berlin

Nach dem Auszug aus dem Haus meiner Eltern lebte ich in drei verschiedenen Wohnungen in Wien, bevor ich nach dem Studium ins Ausland zog. Zuerst nach Berlin, von dort nach New York, nach München, weiter nach New Delhi, Singapore, Hongkong und ein paar Jahre später zurück in die USA nach Los Angeles und Chicago. In Berlin wohnte ich in einem Hinterhof in der Nähe des Nollendorfplatzes, der in Erich Kästners "Emil und die Detektive" ein wichtiger Ort ist, mit Kohlenheizung und vorwiegend türkischen Mitbewohnern, die mich am Wochenende zu gegrilltem Lammfleisch im Hof einluden und der Geruch sich auch bis zum nächsten Wochenende nicht verflüchtigte. Im Stockwerk unter mir zwei Prostituierte mit winzig kleinen, ewig bellenden Hunden, immer freundlich grüßend, doch war ich mir auch nach drei Jahren nicht sicher, ob es Frauen oder Männer waren.

Die Sommermonate verbrachte ich in Küb, einem kleinen Ort am Fuß des Semmerings, wo ich drei nebeneinander liegende Zimmer in einem aufgelassenen Hotel mietete. Einen der Esstische aus dem unbenutztem Speisesaal schob ich in meinem Zimmer zum Fenster als Arbeitstisch. Von hier konnte ich die Züge der Südbahn beobachten, die langsam über den Semmering krochen. Wenn der Nachtzug nach Venedig fünf Minuten Verspätung hatte, fiel mir das sofort auf.

New York

In New York mietete ich eine Wohnung im "Meatpacking District" in der Nähe der 14. Strasse und 9th Avenue. Hinter dem Wohnhaus auf dem Parkplatz der Fleischereien ließen die Lkw während der Nächte ihre Kühlaggregate laufen, so laut, dass ich zu Beginn dachte, mein eigenes Wohnhaus werde abgerissen, und die Arbeiter mit Pressluftbohrern hätten bereits das Nebenzimmer erreicht.

In New Delhi wohnte ich im Obergeschoß einer Villa mit einer Dachterrasse. Warf man auf der Terrasse ein Stück Fleisch in die Luft, stürzten von den umliegenden Bäumen Vögel herunter und schnappten nach dem Fleisch, bevor es den Boden berührte. In Singapore vergaß ich einmal die Klimaanlage einzuschalten. Als ich nach drei Tagen zurückkam, waren Kleidung, Schuhe und Möbel mit Schimmelpilz überzogen. In der Repulse Bay, auf der Südseite von Hongkong Island, konnte ich vom Fenster meines Arbeitszimmer die Anfänger einer Wasserskischule beobachten, wie sie nach wenigen Metern ins Meer stürzten.

In Los Angeles wohnte ich im Haus der Schauspielerin Gloria Swanson in den Hollywood Hills, das Joseph Kennedy, der Vater von John Kennedy, erbauen ließ, mit dem sie eine Affäre hatte, und das uns ein drogensüchtiger Filmproduzent während seiner Entwöhnungskur vermietete. Vom Garten aus konnte man die Villa des Sängers Prince sehen und den Wirbel der Parties beobachten.

Zu Hause

Es waren unterschiedliche Ursachen, warum ich so oft Ort und Wohnung wechselte, familiäre Gründe, berufliche Veränderung oder einfach nur Neugierde und Abenteuerlust. Nach einer Studie aus Deutschland und Großbritannien steht an erster Stelle das Problem "Platz" als Grund für eine Übersiedelung. Der zweithäufigste ist Familie, Heirat und Trennungen und an dritter Stelle berufliche Veränderung. Die Häufigkeit des Umzugs ist von Land zu Land verschieden. In den USA wechseln Menschen im Laufe ihres Lebens doppelt so oft den Wohnort wie in Europa.

Distanz ist sowohl ein absoluter als auch relativer Begriff. Die absolute Distanz ist stabil und messbar, die relative unberechenbar, zufällig und abhängig von emotionalen und irrationalen Bedingungen. Man kann sich nur wenige Kilometer entfernt vom Heimatort fremd fühlen, und die Fremde als ein neues, glückliches Zuhause erleben, Tausende Kilometer entfernt, in einem anderen Erdteil.