"Istanbul war wie ein Kriegsgebiet"

Journalistin Özge Özdemir im NEWS.AT-Gespräch über die letzten Wochen am Taksim

von
Türkei-Proteste - "Istanbul war wie ein Kriegsgebiet"

NEWS.AT : Frau Özdemir, welche Bedeutung haben diese Proteste für die Türkei?
Özge Özdemir: Als am 31. Mai (dem Tag der ersten großen Polizeiintervention, Anm.) tausende Menschen versuchten, den Taksim-Platz zu erreichen, stellte sich ihnen die Polizei mit Tränengas, Wasserwerfern und Gummigeschossen entgegen. Unglaublich viele Menschen wurden verletzt. In dieser Nacht war Istanbul wie ein Kriegsgebiet. Vielmehr war es aber auch ein Wendepunkt für die Türkei. Zum vielleicht ersten Mal gingen tausende Türken für ihre Rechte auf die Straße. Jeder von uns hustete wegen des Tränengases, unsere Augen brannten. Schon alleine der Klang der Gewalt war schrecklich. Andererseits halfen Junge und Alte zusammen, während sie vor der Polizei flüchteten. Niemand wird diese Nacht vergessen.

NEWS.AT : Was geschah weiter?
Özdemir: Nach all der Gewalt in der Nacht gab die Regierung am 1. Juni den Zugang zum Gezi-Park wieder frei. Damit begann die nächste Phase des Widerstands. Die Solidarität und die gegenseitige Unterstützung der Menschen dort waren fantastisch. Es gab umsonst Essen für alle, jeder half denen, die im Park die Stellung hielten. Auch die Straßenkinder konnten sich während dieser Zeit sattessen. Tagsüber war es wie ein Festival, abends kamen dann Junge, Alte und Familien zusammen, um gegen die Regierung zu protestieren. Der Gezi-Park war wie ein Utopia.

NEWS.AT : Wie ist jetzt die Stimmung unter den Protestierenden?
Özdemir: Die Leute sind hoffnungsvoll, zugleich aber auch verwirrt, weil sie nicht wissen, in welche Richtung die Demonstrationen gehen sollen. Außerdem sind sie natürlich frustriert, enttäuscht und wütend. Am 15. Juni (Räumung des Gezi-Parks, Anm.) haben diese Menschen die volle Wucht der Polizeigewalt erlebt. Das Vorgehen der Einsatzkräfte war äußerst brutal, die Bilder und Videos zeigen das. Tausende Menschen haben sich der Polizei entgegengestellt, die sogar ein Hotel mit Pfefferspray beschossen hat, in dem sich Verletzte und Kinder versteckt hatten. Im Park haben sich auch Familien befunden, aber der Polizei war das egal. Demonstranten wurden geschlagen und viele verhaftet, darunter auch Freunde von mir. Am Sonntag zogen dann auch Regierungs-Anhänger mit Stöcken durch die Straßen und prügelten auf Demonstranten ein. Nicht zuletzt zogen sich die Menschen vorerst zurück und suchten einen neuen Weg, ihren Unmut auszudrücken.

NEWS.AT : Ist die kürzlich aufgekommene Form des “stillen Protests” ein möglicher Weg, die Polizeigewalt zu vermeiden?
Özdemir: Ja, ist sie. Gerade am dunkelsten Punkt, als die Leute sich gefragt haben, wie es weitergehen soll, hat “duranadam” (der “stehende Mann”, Anm.) ihnen neue Hoffnung gegeben. Diese Form des Protests ist so friedlich wie fantasievoll. Und sie hat sich schnell in der ganzen Türkei verbreitet. Am Anfang wurden zwar auch die “stillen” Protestierenden verhaftet. Inzwischen hat Vizepremierminister Bulent Arinc aber zugesagt, die solcher Art Protestierenden in Ruhe zu lassen.

NEWS.AT : Was passiert sonst in diesen Tagen nach der Räumung des Protest-Camps im Gezi-Park?
Özdemir: In Istanbul gibt es gibt jetzt öffentliche Foren in allen Parks, die die nächsten Schritte diskutieren. In welcher Art sollen die Proteste weiterlaufen? Sollte eine politische Partei in die Protestbewegung eingebunden werden? Fragen dieser Art. Davon abgesehen gehen die Demonstrationen im ganzen Land weiter.

NEWS.AT : Berichten zufolge steht trotz der Proteste noch immer das halbe Land hinter der AKP-Regierung. Können die Proteste dennoch etwas ändern?
Özdemir: Es wird keine unmittelbaren Effekte geben. Wie gesagt unterstützen nach wie vor sehr viele Leute Erdogan und seine Regierung. Aber solange er seine Vorgehensweise und seine Politik nicht ändert, werden der Widerstand und der Kampf um die Freiheit nicht aufhören. Das Ergebnis wird von der künftigen Richtung der Proteste abhängen.

NEWS.AT : Was ist denn das Ziel der Proteste? Sind die Demonstranten überhaupt eine homogene Gruppe, die ein übergeordnetes Ziel verfolgt?
Özdemir: Zu Beginn war es nur der Kampf um den Erhalt des Gezi-Parks. Durch die extreme Gewalt der Einsatzkräfte gegen diese friedliche Demonstration wandelten sich die Proteste aber schnell zu einem Aufschrei gegen die Regierung. Inzwischen gibt es verschiedene Gruppen, die verschiedene Ziele verfolgen.

Einerseits sind es junge Menschen, die mit der zunehmenden Einschränkung ihrer persönlichen Freiheiten unzufrieden sind. Die Regierung hat zum Beispiel den Verkauf von Alkohol in der Nacht verboten, versucht Abtreibungen zu kriminalisieren und auch, Küsse und Umarmungen in der Öffentlichkeit zu verbieten. Generell stoßen sich die Protestierenden an Erdogans autoritärer Vorgehensweise. Es frustriert die Menschen, wenn sie gedemütigt werden, nur weil sie keinen konservativen Lebensstil pflegen.

Andererseits gibt es in der Türkei zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte und keine faire Justiz. Ärzte und Anwälte, die den Demonstranten im Gezi-Park helfen wollten, wurden verhaftet. Viele Journalisten sitzen im Gefängnis. Die Menschen haben Angst, die Regierung zu kritisieren, weil sie dafür verhaftet werden können. Auch dagegen wird protestiert. Und zwar von jungen, gut ausgebildeten Menschen genauso wie von Menschen aus armen Stadtvierteln, von türkischen Nationalisten wie von Kurden.

NEWS.AT : Es gab auch Berichte, dass die Regierung “Agenten” in den Park eingeschleust haben soll. Können Sie diese Berichte bestätigen?
Özdemir: Ja, wir hörten diese Schauspieler der Regierung jeden Tag. Sie betonten immer wieder, dass die “Polizei in der Lage ist, alle nötigen Schritte zu ergreifen, sollten die Proteste weitergehen.”

NEWS.AT : Welche Rolle spielten die Medien während der Proteste?
Özdemir: Die Massenmedien stehen vollständig auf der Seite der Regierung. Alle großen Zeitungen gehören Geschäftsmännern, die auch mit der Regierung Geschäfte machen und sie darum nicht kritisieren wollen. Natürlich gibt es auch konservative bis rechte Blätter, die ohnehin die Regierung unterstützen. Zwar gibt es auch unabhängige Zeitungen, denen fehlen aber häufig die finanziellen Ressourcen. Und manche von ihnen sind auch selbst sehr stark ideologisch geprägt.

Darum hat man während der Proteste die Bedeutung der sozialen Medien gesehen. Dort gab es zwar auch gezielte Desinformationen, aber man konnte eben auch verbreiten, was tatsächlich passiert. Bilder und Videos lügen nicht.

NEWS.AT : Was erwarten die Menschen denn von der EU?
Özdemir: Die Menschen riefen die Welt zu Hilfe, im Wissen, dass jede Verurteilung der Vorgänge seitens der EU, der USA und der UNO Einfluss auf die Regierung haben würde. Darum war auch die Unterstützung aus der EU so wichtig. Dass Erdogan jetzt, nach Jahren der Mitgliedschafts-Bestrebungen, sagt, er erkenne Entscheidungen des Europaparlaments nicht an, ist natürlich sehr enttäuschend in Hinblick auf die Beitrittsgespräche.

NEWS.AT : Könnte die Regierung tatsächlich wie angekündigt die Armee zum Einsatz bringen, sollten die Proteste nicht enden?
Özdemir: Die Intensität der Proteste hat im Moment nachgelassen, also denke ich nicht, dass das passieren wird. Wären die Proteste aber weitergegangen wie etwa am 15. Juni, wäre das durchaus denkbar gewesen.

NEWS.AT : Was müsste passieren, um die Proteste zu beenden?
Özdemir: Zuerst müsste die Regierung diejenigen freilassen, die während der Proteste verhaftet wurden. Dann müsste es ordentliche Untersuchungen der Fälle geben, in denen Polizisten Demonstranten verletzt und getötet haben. Und dann müsste die Demokratie gestärkt werden. Erdogan muss seine Einstellung ändern, er muss sich mäßigen.

NEWS.AT :Wie wahrscheinlich ist es, dass das alles eintritt?
Özdemir:Das ist schwer zu sagen. Einige der verhafteten Demonstranten wurden bereits wieder freigelassen, aber noch nicht alle. Es wurden auch gegen einige Polizisten Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber auch hier gibt es noch viele mehr, gegen die ermittelt werden müsste. In puncto Demokratie ist es eine Frage der Zeit. Was ich jedoch nicht glaube, ist, dass Erdogan sich noch ändern wird.

NEWS.AT : Frau Özdemir, vielen Dank für das Gespräch!

Journalistin Özge Özdemir
© Privat

Özge Özdemir (26) studierte Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und Journalismus in Istanbul und Barcelona und arbeitet als Außenpolitik-Redakteurin bei der Tageszeitung „Milliyet“.

Kommentare

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Würden die paar Tibeter, die in AT leben, mittels einer Demo auf die Annektierung ihres Landes aufmerksam machen, würde niemand etwas sagen. Aber bei der großen türkischen Demo habe ich ein merkwürdiges Gefühl. Die Austrotürken dürfen hier ihre Meinung frei kundtun. Aber genau das billigen sie ihren türkischen Landsleuten nicht zu, weil die anderer Meinung sind. Demokratie falsch verstanden!

Ignaz-Kutschnberger
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So ist es... und ich wüsste schon wie man jemand den Unterschied zwischen brutaler Polizeigewalt und doch großteils friedlicher Demonstration eindrucksvoll vor Augen führen könnte...aber dafür braucht man eh nur Fernsehbilder aus Ankara und Istanbul anschauen!

Ignaz-Kutschnberger
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Und Österreich ist ein freundliches und friedliches Land...aber bei aller Liebe und Bescheidenheit sollte man NIE vergessen, dass wir in den letzten 95 Jahren 2 Weltkriege geführt haben... wir haben den Zerfall der Monarchie überlebt, wir haben Hitler überlebt und wir brauchen KEINEN Gottes- oder Polizeistaat in Österreich!!

Ignaz-Kutschnberger
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Unsere Eltern und Großeltern haben sich die II. Republik und die demokratischen Grundrechte nach dem 2. Weltkrieg "blutig" erkämpft... und mind 95% von unseren Landsleuten würden diese bei Bedrohung auch bis zum letzten Blutstropfen verteidigen. Ich wollte das nur mal klarstellen...viele kennen vlt nicht die österr Kultur.

Ignaz-Kutschnberger
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Und all jenen, die unsere 95-jährige Vergangenheit nicht so genau kennen, möchte ich nur sagen: Der Mensch ist ein Schwein, Sie können sich in Ihrer grausamsten Phantasie nicht ausmalen, wozu er/sie fähig ist!

Lesen Politiker keine Zeitungen oder Leserbriefe? Wie ignorarnt kann man noch sein und den Volkeswillen ignorieren? Ihr werdet, wenn ihr so weiter macht und den Willen der Österreicher ignoriert, die Rechnung präsentiert bekommen. watch out! Wir haben genug (radikale) arbeitssuchende Türken hier, wir brauchen nicht noch mehr!

Wie komme ich dazu, Aussagen von Herrn Strache gut zu heissen, nur wie die verlogenen ÖVP, SPÖ, Grünen Gutmenschen hier auf Stimmenfang gehen wollen? Haben sie vergessen, dass sie zuerst für Österreich da sein müssen? WIR zahlen ihre Gehälter. WIR wissen sehr wohl, was Demokratie ist. Nirgendwo auf der Welt, kann man für irgendeine ausländische Angelegenheit demonstrieren. Bei uns leider schon.

Integrationsminister Kunz meinte in Bezug auf den Jugoslawienkonflikt: "Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Volksgruppen von manchen auch nach Wien hineingetragen worden seien"

Die Auseinandersetzungen wurden nicht von manchem hineingetragen, sondern bewusst von hiesigen Politikern importiert bzw. nicht rausgeworfen.

Türkei hat in Europa nichts verloren!!Und die Frechheit bei uns zu demonstrieren!! Ihr Arschpolitiker rührt euch endlich!

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