Way to war

Was bedeutet ein Präsident Donald Trump 2017 für Amerika und die Welt? Die Antwort findet sich an einem der Orte, die ihn groß machten. Es ist eine Geschichte voller Lügen und Verrat. An ihrem Beginn steht die wohl wichtigste Frage unserer Zeit.

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© Video: news.at/Lehermayr/Herrgott/Gamper

Es beginnt mit einem Knall. Wer sein Leben lang nie einen Schuss gehört hat, könnte glauben, es wäre nur ein Reifenplatzer gewesen, der die Nachmittagsstille im Ort bricht. Der Ort heißt War, so wie der Krieg, und liegt in West Virginia, einem gebirgigen US-Bundesstaat inmitten der amerikanischen Appalachen. Es folgt ein zweiter Knall. Dann ein dritter. Missy Jones schreckt kurz auf. Sie drückt Tochter Isabella und Sohn Chris an sich. Die drei stehen auf der Veranda eines fahrbaren Hauses aus Holz. Daneben parkt, fast wie im Klischeehandbuch, ein Ford Mustang. Missy und ihre Kinder starren gemeinsam auf den gegenüberliegenden Hang. Versuchen zu erkennen, was in einem der Häuser dort vor sich geht. Manche davon sind verfallen und zugenagelt, bei einigen die Dächer eingestürzt, bei anderen die Vorgärten wild verwuchert. Nach dem vierten Knall ist sich Missy sicher: Es sind Schüsse. "Entweder ballert da einer diesen Hund ab, der ständig bellt, oder gleich dessen Besitzer." Die Kinder kichern. "Vielleicht waren es aber auch die Cops", meint Missy, als kein fünfter Schuss mehr fällt. "Da drüben geht's schon länger ordentlich ab. Drogen und so Zeugs, ihr wisst schon."

Der Weg nach War gleicht einer Reise in ein verwunschenes Land. In ein Amerika, von dem man annehmen würde, dass es so gar nicht mehr existiert. Über eine Stunde lang geht es seit der Abfahrt vom Freeway durch enger werdende Täler. Moosgrüne Natur, schroffe Felsen, dicht bewaldete Hügel. Die in den USA sonst nie abreißende Serie der immer gleichen Fastfoodketten, die so tun, als würden sie sich voneinander unterscheiden, ist unterbrochen. Kein Wendy's, kein Burger King, kein McDonald's. Nichts. Der Landstrich ist selbst den Anbietern des Billigsten zu arm.

Kennedys großer Schwur

Stattdessen brüchiger Asphalt, aufgelassene Tankstellen, stillgelegte Minen. In einem Truckstop, der noch offen hat, hängen ein paar kauzige Kerle an der Theke. Sie erweisen sich als herzlich und neugierig, auch wenn man sich beim Gespräch stark konzentrieren muss, da ihr Dialekt so stark ist. Draußen zwitschern Vögel. Nur selten schleppt sich ein Truck vorbei.

Es muss dieselbe Straße sein, die auch John F. Kennedy im Mai 1960 genommen hat. Der junge Senator laborierte an Halsschmerzen, als er in einer offenen Limousine an War vorbeifuhr und schließlich 20 Meilen weiter in Welch eintraf. Die Hauptstadt von McDowell County war ein pulsierender Ort. Kinos, Theater, Bars und reichlich Spelunken, in denen Grubenarbeiter nach ihrer Schicht zechten. Tausende drängten sich bei Kennedys Ankunft auf den Straßen. Sie wollten einen Blick auf den Mann erhaschen, der ihr nächster Präsident werden sollte, aber erst die Vorwahlen in West Virginia gewinnen musste.

Heute wirkt Welch wie eine Geisterstadt. Theater und Kinos wurden dichtgemacht, sind ausgebrannt oder abgetragen. Es gibt drei Gefängnisse, ein paar Büros für Strafverteidiger und ein Gericht, aber kaum noch ein Geschäft. Der Niedergang hat sich in jedes Haus gefressen. Nur in einem brennt Licht. Eine Frau im Holzfällerhemd steht auf einer Leiter und zieht dicke, verstaubte Bücher aus einem Regal, das bis zum Plafond voll damit ist. Monat für Monat sind die Ausgaben der "Welch Daily News" abgelegt. Schon seit Jahren war keiner mehr hier oben im Archiv der Zeitung. Melissa Nester ist dessen Chefredakteurin und wird eine Stunde brauchen, bis sie ihren Fund präsentiert: den Artikel über Kennedys Besuch im County.

JFK benötigte McDowell, um die Vorwahlen zu gewinnen. Nirgendwo anders wurde so viel Kohle produziert wie hier. Die Stahlwerke im Norden wären stillgestanden ohne das schwarze Gold, das zwischen War und Welch aus der Erde gesprengt wurde. Und doch war Kennedy schon damals die Veränderung bewusst. "Tausende Menschen haben zuletzt ihre Arbeit in den Minen verloren", sagte er in seiner Rede. "Und obwohl es dort nun weit weniger Jobs gibt, wird mehr Kohle als je zuvor produziert." Als Kennedy durchs County fuhr, sah er echte Armut. Familien mit vielen Kindern, die hungerten und um die sich keiner kümmerte. "Das Leben dieser Menschen besser zu machen, ist der einzige Grund, warum man Politiker wird", sagte JFK daraufhin und versprach, nicht zu ruhen, bevor er eine Lösung habe. "Am Ende müssen wir Antworten auf die Automatisierung der Industrie finden", sagte er und schien seiner Zeit weit voraus: "Das, was in den Gruben von McDowell geschieht, ist nur eine Wolke am Horizont im Vergleich zu dem, was in Zukunft auch in anderen Branchen droht."

Schlüsselfrage unserer Zeit

Aus Kennedys Wolke ist 55 Jahre später eine Sonnenfinsternis geworden. Und aus den damaligen Sorgen über die Automatisierung die Schlüsselfrage unserer globalisierten Zeit: Was tun, wenn Technik und Lohndumping Millionen von Menschen überflüssig machen? Ihre einst gut bezahlten Stellen verschwinden? Sie nur mit Müh und Not Ersatz finden in Jobs, die einen Bruchteil des Geldes einbringen und bloß einen Hauch der sozialen Absicherung von einst? West Virginia war über Jahrzehnte demokratisches Kernland. Die Minen mit ihren Arbeitern und den Gewerkschaften galten als sichere Lieferanten von Stimmen. Selbst Barack Obama konnte im weitgehend weißen McDowell 2008 noch einen Sieg einfahren. Und dann kam Trump. Bei den Vorwahlen im Mai stimmte fast das ganze County für ihn: 93 Prozent, so viel wie nirgendwo sonst in den USA. Bei der eigentlichen Wahl gewann er gegen Hillary Clinton drei Viertel aller Stimmen.

Die Wut, die Trumps Wählern nachgesagt wird, ist in McDowell längst der Resignation gewichen. Als Clinton im Wahlkampf davon sprach, auch die letzten Minen schließen zu wollen, provozierte das gerade noch ein Schulterzucken. Ihr Gerede von den "green jobs", die stattdessen entstünden, klang in den engen Tälern zwischen Welch und War so weit weg, wie es das Silicon Valley tatsächlich ist.

Auch eine wie Missy Jones, die selbst Schüsse in ihrer Nachbarschaft nicht mehr fürchtet, stimmte für Trump. Ihr Mann hat noch einen der knapp tausend verbliebenen Jobs im Bergwerk. "Wir haben schon viel verloren, aber nicht unsere Stimme", sagt sie. Es ist ein Satz, der häufig fällt. In ihm steckt kein Hauch von Überschwang nach Trumps unerwartetem Sieg. Er ist nur Ausdruck eines letzten Aufbegehrens.

Das Diner in War, in das Generationen von Bergarbeitern nach Schichtende stürmten, gibt es bis heute. Orbie Campbell war eine junge Frau, als sie 1968 aufsperrte. An ihrem ersten Tag schlug sie Nägel in die holzvertäfelte Wand und hängte die Porträts der Kennedy-Dynastie auf. Gleich beim Eingang das Bild des damals schon ermordeten JFK, daneben die wunderschöne Jackie und drüben, wo sie bis heute Burger und Roastbeef für die wenigen Verbliebenen brät, Bobby, der nur Tage später sterben sollte. Es waren Demokraten, die Orbie Hoffnung gaben. "Sie kamen nicht nur, um Stimmen zu sammeln, sondern sie hielten ihre Versprechen auch", sagt sie. Nach Kennedys Wahlsieg sollte nicht einmal ein Jahr vergehen, bevor Amerikas erste Essensmarken genau hier im County an hungernde Familien gingen. JFKs Nachfolger, der Demokrat Lyndon B. Johnson, setzte den Krieg gegen die Armut fort. Es gab Stipendien, neue Straßen und Spitäler und für Millionen von Menschen im ganzen Land die Chance auf ein besseres Leben.

Herzversagen im Heartland

Was danach geschehen ist und Trump erst möglich machte, lässt sich auch als eine Geschichte von Lügen und Verrat erzählen. Minen schlossen, Politiker flüchteten sich in Ausreden, Fördergeld verschwand. Doch über all dem thronte die Hoffnung, "König Kohle" werde schon zurückkehren. Tat er aber nicht. In mehr als fünf Jahrzehnten fand sich kein einziger demokratischer Politiker, der dort weiterdachte, wo Kennedy aufgehört hatte. Niemand schien in der Lage, Pläne für die Zeit nach der Kohle zu entwickeln und die Milliarden an Steuern, die in den erfolgreichen Tagen der Gruben geflossen waren, sinnvoll einzusetzen. Wer konnte, floh also. Das County verlor 80 Prozent seiner Bewohner, wurde zu einem der ärmsten Landstriche Amerikas. Doch War und Welch waren keine Einzelfälle, sondern vielleicht nur die augenscheinlichsten Symptome einer Deindustrialisierung, die große Teile des amerikanischen Nordostens erfasst hatte.

Wer blieb, wachte in einer allmählich zerfallenden Zeitkapsel wieder auf. Relikte einer glorreichen Vergangenheit, die vor den eigenen Augen zerbröseln. 20.000 Menschen leben noch in McDowell County. Oft sind es Menschen mit leeren Augen, aus denen die Drogen starren, die sie nachts in ihren Bretterbuden rauchen, schnupfen, inhalieren oder injizieren. Bei fast jedem zweiten Baby, das im Spital von Welch zur Welt kommt, werden Spuren von Drogen im Körper festgestellt. Eine Epidemie aus Crystal Meth und Schmerzmitteln sucht Amerikas Innerstes heim. Das Heartland leidet an Herzversagen.

Während sich die einen nur noch betäuben, selbst vergessen und ihrer Sinne berauben, flüchten sich andere so wie Diner- Betreiberin Orbie Campbell in die Illusion, alles sei noch so wie früher. Auch Chefredakteurin Melissa Nester macht so weiter, als könnte Kennedy jeden Moment erneut um die Ecke biegen. Sie ist eine der wenigen, die das County je verließ, auswärts studierte und doch zurückkam. Sie zieht an ihrer Zigarette und schaut aus dem Fenster auf die Fassaden einer entvölkerten Stadt. "Vermutlich hätte ich auch längst abhauen sollen, aber ich klammere mich an die Zeitung und ich mag die Wärme und den Zusammenhalt der Verbliebenen. Wir helfen uns, auch wenn uns keiner hilft."

An den Küsten Amerikas aber, dort, wo die Demokraten ihre neuen Wähler, fern der weißen Arbeiterschaft, rekrutierten, empfand man für diese nur noch Scham und Häme. Beachtet, missachtet, verachtet: So lautet der Dreisatz des Verrats. Es sollte daher kein Zufall sein, dass Bernie Sanders, Clintons linker Herausforderer in den Vorwahlen, der Einzige blieb, der 2016 noch nach McDowell kam. Der Rest hat jedes Empfinden für den Schmerz verloren, den ein Leben in War und anderswo auslöst. Lieber verspotteten sie ihre einst treuesten Wähler als hoffnungslos rückständige "Rednecks" und "Hillbillys", die nur mehr für einen Witz taugen. Scherze, die auf jeder Cocktailparty an der Küste garantiert funktionieren. Sind sie doch die einzigen, bei denen niemand soziale Ächtung wegen des Verstoßes gegen das sonst so rigide Korsett der politischen Korrektheit fürchten muss.

Der Plan des Scharlatans

Wenn Donald Trump am 20. Jänner 2017 zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten vereidigt wird, endet ein Zeitalter. Es war ein amerikanisches Jahrhundert. Dessen Ausklänge ließen jene Wehen entstehen, die Trump überhaupt erst ermöglichten. Trump eroberte ein müdes, schwach gewordenes Imperium, das militärisch überdehnt und wirtschaftlich im Inneren ausgezehrt ist, mit dem Versprechen von Glanz und Glorie. Zwischen all den Beschimpfungen, die seinen Wahlkampf prägten, verbarg sich auch der Ansatz eines Plans. Und der lautet: Amerika zuerst. Wirtschaftliche Abschottung und militärischer Rückzug aus der Welt. Ist das, fünf Jahrzehnte nach JFK, die richtige Antwort auf eine entfesselte Globalisierung, die viele Menschen auf der Strecke bleiben lässt?

Noch rätselt die Welt, ob Trump sich tatsächlich als Isolationist und Protektionist erweist. Oder ob er doch nur der Narzisst bleibt, der er immer schon war. Einer, bei dem die Tagesverfassung und das Ausmaß, in dem ihm sein Gegenüber schmeichelt, eher über sein Handeln entscheiden als jede Form von Ideologie.

Vollmundig stellte Trump die Rückkehr der Kohle in Aussicht. Jeder in War kennt seinen Auftritt, bei dem er mit Helm und Grubenlampe posierte, den Daumen nach oben streckte und mit einer imaginären Schaufel seine Entschlossenheit imitierte.

Dass es ihm ernst scheint, beweist Trump mit der Auswahl seines künftigen Kabinetts. Als Chef für die Umweltbehörde nominierte er Scott Pruitt, einen Leugner des Klimawandels, der sich von mächtigen Energiekonzernen sponsern ließ. Von ihm wird erwartet, dass er die Regulierungen aufweicht, welche den Kohleabbau unrentabel machten. Die Minen, so das Signal, würden mit einem Freund der Kohle als oberstem Umweltschützer bald wieder öffnen. Doch selbst die Grubenbosse zweifeln an einem echten Comeback. Sie wissen zu gut, dass die USA mit Fracking, dem Bohren nach Schiefergas, längst weit günstigere Energiequellen erschlossen haben.

Bob Murray, Chef des größten US-Minenbetreibers und Obama-Kritiker, gestand kürzlich, dass er nicht viel von Trumps Plänen halte und der künftige Präsident wenig Ahnung hätte. Trump wusste bei einem Treffen nicht einmal, was Flüssiggas ist, ließ sich Murray zitieren. Dann rechnete er vor, dass es wegen der Automatisierung kaum neue Jobs gebe, selbst wenn Dutzende Minen wieder öffneten. Insofern hat sich seit Kennedys Diagnose wenig geändert. Bloß dass nun viele wider besseres Wissen dem Scharlatan glauben wollen. Und dieser schon vor seinem Amtsantritt beweist, wie geschickt er darin ist, Erfolg zu suggerieren.

Das beste Beispiel dafür liefern zwei Videos und ein Hersteller von Klimaanlagen. In dem einen Clip sieht man eine Betriebsversammlung. Die Bosse verkünden darin den Arbeitern barsch, dass ihre Jobs Geschichte seien, die Firma statt in Amerika fortan im billigeren Mexiko produzieren würde. Es gab kaum einen Wahlkampfauftritt Trumps, bei dem ihm dieses Video nicht als Beweis gedient hätte für all das, was falsch läuft. Wäre er Präsident, würde er die Bosse einfach anrufen und solche Abwanderungen verhindern. Er, der Dealmaker als Jobgarant, der mit niedrigen Steuern lockt und hohen Zöllen droht.

Dummer statt freier Handel

Der andere Clip zeigte Obama, den Präsidenten. Bei einem Auftritt für Clinton legte er sein Sakko ab und begann sich über Trumps Ankündigungen lustig zu machen. "Wie will er denn die Jobs zurückbringen?", fragte er ratlos. "Ist er ein Zauberer?" Umso erstaunter waren die Arbeiter, als der gerade gewählte Trump Vollzug verkündete. Carrier, der Klimaanlagenproduzent, bleibe, 800 Jobs seien gerettet und sein Anruf beim Boss hätte den Ausschlag gegeben. Die Millionen an Steuerersparnissen, die Trump dabei versprach, verschwieg er lieber geflissentlich. Es gibt viele gute Gründe, solch leeren Populismus zu kritisieren. Ihn abzulehnen und herauszustreichen, dass Trumps "America first" in der globalisierten Welt nicht funktioniert, Protektionismus scheitert und er am Ende Abermillionen weiterer Jobs kosten wird. Aber sag das einem der 800 Menschen, die dank Trump ihren Job behalten.

Trump mag ein Täuscher und Blender sein, ein Hochstapler und Heuchler. Aber er beweist ein Gespür für Stimmungen, die tief aus dem Volk kommen, und er äußert sie, lang bevor Beobachter und Berater der anderen Seite diese auch nur erahnen. Freihandel, der für so viele Opfer sorge, sei nicht frei, sondern dumm, sagte er kürzlich. Er werde das richten.

Sonderbar nur, dass er nach all den Tiraden gegen die Globalisierung in seinem Kabinett lauter Menschen um sich schart, die genau diese zu Milliardären machte. Sollen die Profiteure einer Ordnung zu denen werden, die sie nun im Auftrag Trumps begraben? Oder steckt in seinem Handeln bereits die Wurzel für den nächsten Verrat an den Wählern in War, Welch und anderswo? Der größte Fehler bestünde darin, Trump in seinem schier unendlichen Willen, siegen zu wollen, zu unterschätzen. Scheitert er, sind die Folgen absehbar: ein Anwachsen der Wut ins Unermessliche und ein Abgleiten in eine Welt, in der nicht nur ein Schuss fällt.

Bruce Springsteen, der Rockstar und große Chronist der amerikanischen Arbeiter, war sich nie zu schade, aus deren Sorgen Songs zu schnitzen. "The River" ist einer der besten davon. Träume platzen darin, Hoffnungen gehen unter. Der Fluss bleibt trotzdem das Ziel, auch wenn der längst ausgetrocknet sein mag. Ist ein Traum, der nicht wahr wird, eine Lüge, fragt Springsteen am Ende des Liedes. Oder ist es etwas weit Schlimmeres?

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