Tiroler Lehren für nächste Wahlen

Die Wahl in Tirol ist geschlagen. Was davor war, gilt als Sturm im Wasserglas. Doch ein Übergang zur Tagesordnung wäre fatal - für Land, Bund und alle etablierten Parteien.

von Tirol-Wahl © Bild: IMAGO images/Manngold

Hier gibt er gerne Sommer-Interviews für "die Auswärtigen". Auf der Wiese hinter dem Isserwirt in Lans, 300 Meter über Innsbruck. Den Patscherkofel im Rücken, das Hafelekar im Blick, die Augen vom Land über die Stadt gerichtet. Günther Platter, 68, der nach Eduard Wallnöfer (1989) längstdienende Landeshauptmann von Tirol in der Zweiten Republik. In der laut Eigendefinition "ältesten Festlandsdemokratie" ist er der 82. seit 1342.

2023 werden sie hier wieder jenes Veteranentreffen veranstalten, das wie so vieles Pause hatte wegen der Pandemie. Ein Oldtimer-Meeting der anderen Art: Ursprünglich nur für Tiroler, zieht es mittlerweile routinierte Rock-und Popmusiker aus ganz Österreich in den 1313 erstmals erwähnten Gasthof. Vielleicht ist dann auch Platter eingeladen. Er spielte die Rhythmusgitarre in der Band "Satisfaction of Night". Sie wurde vor einem halben Jahrhundert aufgelöst. Diese Gefahr hat für die Tiroler Volkspartei nie bestanden. Doch nach 13,5 Jahren hat Platter ihre Führung an Anton Mattle, 59, abgegeben, der ihn bald auch als Landeshauptmann ablösen wird.

Stimmung als Erfolgsmodell

Das kann eine Zäsur werden, wie sie Tirol zuletzt in der Ära nach dem "Walli" erlebt hat, oder eine versäumte Chance, wie in Folge von dessen Nachnachfolger Wendelin Weingartner, 85. Er hatte das Land in die Moderne geführt, doch der Erbfolgekrieg endete im Rückschritt. Platter spielte dabei zwar eine zentrale Rolle, doch mit mehr parteilichem Glück als politischem Verstand. Als er 2000 durch den plötzlichen Tod seines Vorgängers in die Landesregierung kam, galt ein anderer als beste Reserve der Volkspartei: Ernst Schöpf, 62, der mit 25 Bürgermeister von Sölden wurde und es heute noch ist.

Später wäre der Präsident des Tiroler Gemeindeverbands auch Chef des österreichischen Gemeindebunds geworden, wenn das hintere Ötztal nicht gar so weit von den Sitzungen in Wien entfernt läge. Einst hatte er wegen schwarzer Innenlogik dem ÖAAB-Mann Platter den Vorzug lassen müssen. Heute steht immer noch eine original japanische Samurai-Rüstung im Büro des Kämpfers gegen Windmühlen. Denn der zum Wirtschaftsbund zählende, wohl profilierteste interne Kritiker der Landes-ÖVP hätte die Partei nur übernehmen können, wenn Mattle noch tiefer als von 44 auf 35 Prozent abgestürzt wäre. Nun empfiehlt er ihr ungewohnt diplomatisch, "weiterhin auf die Breite zu setzen, weil wir hier in jedem Ort vertreten sind -mehr oder weniger straff organisiert". Das ist auch die Ursache, warum die Tiroler Volkspartei eine noch viel deutlichere Niederlage abwenden konnte: "Wie wir Stimmung machen können bis in die hinterste Peripherie, das ist schon ein Erfolgsmodell."

Innsbruck als Achillesferse

Weniger erfolgreich sind die Integrationsversuche von Stadt und Land. So wie Wien für die ÖVP insgesamt ist Innsbruck die Achillesferse ihrer Tiroler Hochburg. "Die 20 Prozent dort haben mich schon positiv überrascht", sagt Schöpf. Heute gilt es bereits als Erfolg, im Vierkampf mit SPÖ, FPÖ und Grünen voran geblieben zu sein. 2003 waren es hier noch mehr Stimmanteile als nun im ganzen Land. Herwig van Staa (80) hatte damals nach knapp gewonnener Kampfabstimmung gegen Platter einen Wahlsieg mit absoluter Mandatsmehrheit gefeiert. Der Schwiegersohn Wallnöfers war zuvor Innsbrucker Bürgermeister mit einer von der ÖVP abgespaltenen Liste. Doch schon 2008 wurde er Opfer eines weiteren Renegaten. Die Liste des früheren AK-Präsidenten und ÖAAB-Urgesteins Fritz Dinkhauser, 82, erzielte den größten Erfolg einer regional oder national erstmals angetretenen Gruppe in der Zweiten Republik: 18 Prozent -und die VP verlor beinahe ebenso viel wie nun unter Mattle. Van Staa wurde nur 22 Tage später durch den im Minister-Exil geparkten Platter ersetzt.

"Es geht uns gut!"

Von da an ging es vorwärts in die Vergangenheit. Die Außendarstellung des Landes geriet zusehends rustikaler. Von der Tracht über die Schützen bis zur Blasmusik regierte das Missverständnis des Megatrends Heimat, einer restaurativen Antwort auf Globalisierungsängste. Dabei hat die Partei eher Salz in die Integrationswunde der Stadt-Land-Kluft gestreut, als versucht, sie zu schließen. Befeuert von ständig noch besseren Daten für die Haupteinnahmequelle Tourismus wurde die andere wirtschaftliche, aber vor allem gesellschaftliche Entwicklung vernachlässigt. Während die Inntalfurche von Kufstein bis Landeck letztlich ein einziger urbaner Raum, eine Art Tirol City geworden ist, wird das Selbstverständnis der Volkspartei noch weit überproportional von den Positionen aus den Seitentälern getragen. Spätestens die Wahl 2013 mit dem bis dato historisch schlechtesten Ergebnis vor allem aufgrund weiterer VP-Abspaltungen hätte Reformen einleiten müssen. Doch die Rekorde des Tourismus täuschten über die Schwächen hinweg: Platters große Erzählung für Tirol lautete unverdrossen: "Es geht uns gut" - im Bundesland mit der kleinsten Pro-Kopf-Verschuldung und geringsten Arbeitslosigkeit. Dieses Narrativ verschwieg seit jeher die Spitzenstellung bei Wohn-wie sonstigen Lebenskosten und das Nachhinken bei den verfügbaren Haushaltseinkommen.

Doch der Sebastian Kurz, 36, geschuldete fünfprozentige Zuwachs bei der Landtagswahl 2018 streute Sand in die Augen auch Sehender in der Partei. Der Sieg wurde als Eigengewächs fehlinterpretiert. Erst mit den Fehlleistungen rund um die Covid-Krise -Stichworte Ischgl und "Alles richtig gemacht" - musste das Kartenhaus unweigerlich zusammenbrechen. Nun wird Mattle der Landeshauptmann mit dem geringsten Mandatsrückhalt in Österreich. Doch taugt dieser Absturz auch zum Menetekel für die weiteren Landtagswahlen und den Fortgang der schwarz-grünen Bundeskoalition? Ernst Schöpf sagt: "Bei uns war die türkise Anhängerschaft nie so ausgeprägt. Die seinerzeit elegant im Fahrwasser von Kurz mitgeschwommen sind, haben sich selbst aus dem Feld genommen." Er ortet trotzdem in der kommunalen Ebene ein riesiges Reservoir zur notwendigen Verjüngung der Funktionärsschicht.

Gelassener Blick auf Wahltag

In die gleiche Kerbe schlägt Bernhard Ebner, 49, seit 2015 Nachfolger des heutigen Innenministers Gerhard Karner, 54, als Landesgeschäftsführer der Volkspartei Niederösterreich. Dort sind die nächsten Landtagswahlen, frühestens am heute noch bevorzugten 29. Jänner, spätestens am 19. März. "Wir haben 20.000 Funktionäre, stellen 7.000 Gemeinderäte und 452 Bürgermeister: Das ist unsere Stärke", sagt der Chef des professionellsten politischen Mobilisierungsapparats der Republik. Schon 2008 hat er den Obama-Wahlkampf auch persönlich in den USA erlebt - damals noch als Kommunal-und Organisationsreferent der VPNÖ. Die Verknüpfung dieser Einflüsse mit der "wahrscheinlich dichtesten Parteistruktur in Österreich" lässt ihn gelassen auf den nächsten Wahltag blicken, "obwohl für uns die Umfragen schon auch ein Thema sind".

Damit meint er nicht die intern gehaltenen hochqualitativen Marktforschungen, sondern "das Horse Race für die Medien, wie wir es in Tirol gerade erlebt haben". Dort wurde der ÖVP ein Absturz bis auf 25 Prozent attestiert, für Niederösterreich gibt es schon Ähnliches - wenngleich eine Zehnerstufe höher. Denn hier gibt es die letzte schwarze Landesabsolute. Sie stammt ebenfalls von 2018 und wird nach Kurz nicht zu halten sein. Doch ein Vierer vorne gilt als Minimalziel für Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, 58. Ihr Parteigeschäftsführer beteuert: "Über eine solche Symbolik machen wir uns noch keine Gedanken. Für uns ist 2022 ein Arbeitsjahr." Wie er das sagt, wirkt es auch zugleich als Entwarnung und Aufforderung an die Bundesregierung unter Karl Nehammer, 49. Der Kanzler von St. Pöltens Gnaden hat durch die Tirol-Wahl keine Verschnaufpause, aber eine weitere Schonfrist erhalten.

Kampagnen-Maschinerie

Unterdessen bedeutet die Devise "Arbeitsjahr" für die VPNÖ nicht nur Konzentration auf die Themen Kinderbetreuung, Teuerungsausgleich und Mobilität, sondern im Hintergrund das Anwerfen der Kampagnen-Maschinerie. Der Intensiv-Wahlkampf startet dann zu Dreikönig. Dann beginnt im Süden auch die SPÖ mit der Verteidigung ihrer Fast-Absoluten in Kärnten. Hier ist der Wahltermin 5. März ebenso nahezu fixiert wie der 23. April in Salzburg. Dort war der Landeshauptmannsessel der ÖVP bisher am wenigsten abgesichert, gilt Wilfried Haslauer, 66, aber so ungefährdet wie Amtskollege Peter Kaiser, 63, in Klagenfurt.

In allen drei Bundesländern fürchten sich Schwarz und Rot voreinander am wenigsten. In Salzburg könnten die Grünen nach Oberösterreich, Kärnten, Wien und Tirol schon aus der vierten Landesregierung fliegen, in Kärnten kämpfen sie um ihren Wiedereinzug in den Landtag. Nicht nur von dort wird der Zuwachs der FPÖ in Tirol mit dem größten Argwohn beobachtet. SPÖ wie ÖVP verdächtigen durchwegs den anderen, im Fall der Fälle auch mit der Kickl-Partei zu koalieren. In dieser Gemengelage der großen Drei und von Marginalisierung bedrohten Grünen sitzen die NEOS zwischen allen Stühlen. Ihr Plus in Tirol lag weiter unter den Erwartungen.

Eine wirkliche Gewinnerin

Doch diese vermeintliche Gesamtschau ist eine Rechnung ohne die wirkliche Gewinnerin der Tirol-Wahl, die Liste Fritz. Dinkhausers Erbe konnte unter Andrea Haselwanter-Schneider, 54, nicht nur auf der Sympathieskala punkten, sondern den Stimmenanteil auf zehn Prozent fast verdoppeln. Sie ist nun bereits in der vierten Periode vertreten, also nicht vergleichbar mit kurzfristigen Phänomenen, wie es die Liste von Frank Stronach (90) war. Das aus ihr hervorgegangene Team Kärnten gilt aber als fix auch im nächsten Landtag, zumal es mit den Bürgermeistern von Klagenfurt und Spital nun auch kommunal verwurzelt ist. Niederösterreich und Salzburg haben zwar keine solchen Regionalparteien, doch nicht nur für die ÖVP gilt: Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Die Chancen von Neugründungen auf der Landesebene sind ebenso besser denn je wie Möglichkeiten für Außenseiter des etablierten Parteienspektrums. Die KPÖ unter Elke Kahr, 60, vor einem Jahr in Graz war nicht der Anfang. Für Innsbruck, die 1994 von van Staa gegründete Liste, stellte nach ihm noch zwei Bürgermeisterinnen. Die Tiroler Volkspartei empfängt erst jetzt zarte Signale, um diese Spaltung wieder rückgängig zu machen. Unterdessen bleibt ein Ernst Schöpf zwar treu in der ÖVP, klagt aber mit seiner Gemeinde Sölden den umstrittenen Landesenergieversorger Tiwag und bringt mit dem Gemeindeverband auch das für den Bauernbund toxische Thema Agrargemeinschaften wieder aufs Tapet.

Gerücht um Neugründungen

Die Fliehkräfte innerhalb der etablierten Parteien wachsen ähnlich stark wie die Vermutungen von Neugründungen. Das Gerücht um Christian Kern, 56, Othmar Karas, 64 &Co. und eine allfällige Liste der angeblich besten Köpfe ist nur die Spitze des Eisbergs. Dabei haben monothematische Gruppierungen wie das Corona-Nebenprodukt MFG nicht zwangsläufig weniger Chancen, wenn Person, Partei und Programm authentisch übereinstimmen. Kahrs KPÖ beweist das mit Wohnen. Die Liste Fritz hatte eine solche Verengung überlegt, aber dann doch verworfen. Heute sagt Haselwanter-Schneider: "Wir können Opposition, das haben wir in den vergangenen Jahren bewiesen. Wir sind zum Motor der Kontrolle geworden. Aber wir trauen uns auch das Regieren zu."

Unterdessen vermuten viele Beobachter, dass infolge der beiderseits verlorenen Tirol-Wahl der Ton in der Bundeskoalition rauer wird. Ebner jedoch warnt eindringlich: "Die Leute haben den Streit satt. Wer den anderen mit Dreck bewirft, schadet sich selbst." Ob Platter seiner Partei geschadet hat, als er überraschend seinen Rückzug bekannt gab, ohne gleich als -aktuell längst dienender Landeshauptmann Österreichs -abzutreten, lässt sich erst mit größerem Abstand beurteilen.

Neulich war jemand beim Isserwirt und wollte Fotos vom Besuch der Queen sehen. Doch Elizabeth II. beehrte 1969 nicht den Isserwirt in Lans, sondern den Isserhof 1,5 Kilometer weiter in Sistrans. Manches in Tirol lässt sich leicht verwechseln. Das Ende einer Ära ist hier aber auch gewiss, wenn der aktuell noch längstdienende Landeshauptmann Österreichs 2023 nicht zum Rockveteranentreffen kommt. Der größte Hit des Event-Erfinders hieß "Be My Friend".

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 39/2022.