Das Test-Dilemma
in Österreich

720.000 Covid-Tests täglich absolvierten die Österreicher im Mai. Für Millionen Euro pro Tag werden so immer weniger neue Fälle entdeckt. Wie lange noch sind Massentests zu rechtfertigen? Gar nicht mehr, sagen Kritiker. Noch länger, sagt die Regierung, und plant bundesweite PCR-Tests.

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Pandemie - Das Test-Dilemma
in Österreich

Links oder rechts?" Bevor einem die in Schutzkleidung gehüllte Fachkraft das Teststäbchen tief in die Nase schiebt, fragt sie - meistens freundlich und mit Witz, manchmal aber auch genervt von der immer gleichen Routine eines nicht enden wollenden Tages -, aus welchem Loch man seine Probe denn lieber abgeben würde. Es gibt nur wenige Österreicher, die diese Frage noch nie in einer der unzähligen Covid-Teststraßen und -stationen beantworteten. Seit Beginn des Vorjahrs wurde sie viele Millionen Mal gestellt. Und ist hierzulande zu einer Art Sinnbild für den Umgang mit der Pandemie geworden. In kaum einem anderen Land der Welt testen die Behörden so viel wie in Österreich. Mit gutem Grund, sagen die Mitglieder der Bundesregierung und der Gruppe jener Experten, die sie beraten. Die Strategie "testen, testen, testen" sei einer der wesentlichen Gründe dafür, dass das Land bisher so durch die Pandemie kam, wie es die Staatsspitze darstellt: gut. Längst ist die flächendeckende (und für die Bevölkerung auf den ersten Blick kostenlose) Suche nach Infizierten zur unausgesprochenen Bürgerpflicht geworden. Tatsächlich wurden mit diesem Vorgehen bisher zahlreiche Infizierte entdeckt und isoliert.

Kosten-Nutzen-Schere?

Doch was, wenn das Infektionsgeschehen so wie derzeit deutlich zurückgeht? Ist es noch zu rechtfertigen, dass der Staat täglich Millionen Euro für ein Werkzeug des Pandemiemanagements ausgibt, mit dem man in einzelnen Bundesländern nur mehr eine Handvoll Virusträger entdeckt? Die Frage klingt in den Ohren mancher womöglich unerhört, verdient in einer Verwaltung, die sich den Grundsätzen von Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit verschrieben hat, jedoch zumindest eine ergebnisoffene Debatte. Und eine Erörterung, ob die dadurch frei werdenden Mittel womöglich anderswo sinnvoller einzusetzen wären. Oder zu einem anderen Zeitpunkt. Etwa während der Virensaison und nicht jetzt, im langsam in Fahrt kommenden Sommer. Entscheidungen wie diese werden in anderen Bereichen des Gesundheitswesen nämlich Tag für Tag neu getroffen.

Wien: 195.089 Tests, 14 neue Fälle

Als Anlassfall für die Debatte könnten die Ergebnisse des Testreigens nach dem Pfingstwochenende gelten. Für die Hauptstadt Wien dokumentierte der Corona-Krisenstab des Innenministeriums damals gerade einmal 14 Neuinfektionen bei 195.089 Tests. In derselben Tabelle dieser regierungsinternen Auswertung sind für die Steiermark ebenfalls nur sieben neue Fälle verzeichnet. Bei 102.299 Tests. Ist der Aufwand noch angemessen?

Entscheider in Bund und Ländern sind jedenfalls überzeugt davon. Und zwar unabhängig von ihrer jeweiligen Parteizugehörigkeit. Der türkise Bundeskanzler Sebastian Kurz lobte das intensive und kostenlose Testen Symptomloser zuletzt genauso wie der grüne Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein oder der rote Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker. Und alle wollen es fortführen. Weil es jetzt schon gelte, sich auf den Herbst und die Entdeckung möglicher neuer Varianten des Covid-Erregers zu konzentrieren. Und vermutlich auch deshalb, weil man das bisherige Tun politisch rechtfertigen und als Erfolg darstellen muss.

Es war Sebastian Kurz, der im Dezember 2020 für viele überraschend und durchaus auch gegen den Rat einiger Experten das Instrument des Massenscreenings mit Antigen-Schnelltests nach dem Vorbild der Slowakei nach Österreich brachte. Es war Peter Hacker, der in Wien die -zumindest anfangs - viel teureren und genaueren PCR-Tests im Rahmen einer Kooperation mit Wirtschaft, pharmazeutischer Industrie und Laborbetreibern massentauglich machte. Allein im Mai hat die Republik in allen Bundesländern 21,6 Millionen PCR-und Antigentests durchgeführt. Durch Nachmeldungen wird sich diese Zahl noch erhöhen.

Dabei scheint das Coronavirus wie im Vorjahr um die gleiche Jahreszeit auf dem Rückzug zu sein. In der letzten Maiwoche brauchte es genau 2.154 Tests, um einen Positiven zu bestätigen. Zum Vergleich: Vor Einführung freiwilliger Massenscreenings von symptomlosen Personen lag dieser Wert erheblich niedriger. Im November 2020 reichten für einen bestätigten Positiven gerade einmal fünf Tests.

Evidenz für Massenscreenings fehlt

Die Absicht der österreichischen Entscheider, das massenweise Testen der Bevölkerung bis auf Weiteres zu verlängern, wird nun auch von einer der renommiertesten Organisationen im Umfeld evidenzbasierter Medizin in Frage gestellt. In einer Studie der internationalen Cochrane-Gruppe kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die in Österreich überwiegend eingesetzten Antigen-Schnelltests ausgerechnet bei Symptomlosen die schlechtesten Ergebnisse erzielen. Und dass ihr Nutzen weltweit kaum untersucht ist. Mitautor und Biostatistiker Jon Deeks von der Universität Birmingham urteilt über Vorgangsweisen wie die österreichische so: "Solche Teststrategien können sich bisher nicht auf ,Real World'-Evidenz aus der Praxis stützen." Oder in anderen Worten: Was es wirklich bringt, weiß man schlichtweg nicht.

Dennoch denkt man 1.400 Kilometer südöstlich, in Wien, nicht daran, an der gängigen Praxis der Massentests etwas zu ändern. Im Gegenteil. "Gerade über den Sommer ist es essenziell, das Fallgeschehen gut zu beobachten", teilte das Gesundheitsministerium mit. Das Angebot werde niederschwellig und für alle bleiben. "Antigentests sind ein Bestandteil dieser Strategie." Anders geht es derzeit auch gar nicht, besteht doch für nicht geimpfte oder nicht genesene Personen in Form von Zutrittsregeln ein faktischer Testzwang, um überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu dürfen.

Plan: PCR-Tests flächendeckend

Die Regierung plant sogar, das Angebot noch zu verbreitern. Auch qualitativ. "Derzeit wird angedacht, flächendeckend in ganz Österreich die sensitiveren PCR-Tests einzusetzen", bestätigt das Gesundheitsressort. Ab wann, wie und zu welchen Kosten, dazu äußert sich das Haus von Minister Wolfgang Mückstein jedoch noch nicht. Experten von in-und außerhalb des Ressorts beraten noch darüber. Wenig überraschend erwartet man aber, dass Logistik und Laborkapazitäten die größten Herausforderungen darstellen werden.

Die Ausweitung des Programms geschieht im Wissen der Regierung, dass die Strategie "testen, testen, testen" allein wohl nicht der Grund für sinkende Infektionszahlen sein kann. Das steht nicht nur im erwähnten Cochrane-Review, sondern in einem selbst erstellten Lagebild. Seit über einem Jahr wird aus dem Krisenstab der Republik Tag für Tag eine Zusammenfassung mit den wichtigsten Kennzahlen an alle betroffenen Ministerien verschickt. Darin immer enthalten: Ein Vergleich von Covid-Neufällen pro Million Einwohner und die Testintensität in allen Nachbarstaaten. Egal ob Deutschland, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Italien oder Liechtenstein: Alle (bis auf die Schweiz und Slowenien) befinden sich aktuell auf einem ähnlich niedrigen Niveau von Neuinfektionen wie Österreich. An der aufwendigen und teuren Teststrategie hierzulande kann das jedoch nicht liegen. Die 50 Tests pro 1.000 Einwohner im Sieben-Tage-Schnitt sind unerreicht hoch. Zum Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert bei zwei, in Italien bei drei. Wie sehr sich Österreich und seine Politiker auf Massenscreenings von Symptomlosen als Mittel der Wahl festgelegt haben, das zeigen die bisher verfügbaren Zahlen zu Preisen und Auftragsvergaben. Das Gesamtbild besteht allerdings aus vielen unterschiedlich großen und unvollständigen Puzzlestücken. Wie hoch die Kosten am Ende tatsächlich ausfallen werden, können (oder wollen) die meisten Stellen nicht sagen. Aber zumindest Größenordnungen lassen sich abschätzen.

577 Millionen Euro allein bei BBG

Das Gesundheitsministerium etwa beantwortet die Frage nach den Gesamtkosten derzeit nur mit den Zahlen des vierten Quartals 2020. Getestet wurde damals jedoch nur in sehr bescheidenem Ausmaß. Zumindest im Vergleich zu heute. 15 Millionen Euro habe man in diesem Zeitraum ausgegeben.

Ganz anders argumentiert die Apothekerkammer, deren Mitglieder im Auftrag der öffentlichen Hand für Kunden kostenlose (Schnell-)Tests durchführen. Dort heißt es, dass die Summe dieser Tests unklar sei, "weil die Zahlen immer nur zeitverzögert vorliegen".

Tatsächlich laufen diese jedoch bei den Versicherungen tagesaktuell und zentral zusammen. Wir konnten sie für die Recherche einsehen und auswerten. Mit 8. Juni waren 7,319609 Millionen Covid-Testungen in Apotheken dokumentiert. Annähernd drei Millionen davon fanden allein im Mai 2021 statt. 25 Euro bekommen Apotheker pro Test von der Versicherung des Getesteten vergütet. Der Bund ersetzt der Versicherung anschließend diese Summe. Das entspricht auf diesem Sektor einem staatlich verursachten Covid-Test-Umsatz von exakt 182,990225 Millionen Euro.

Eine der wenigen Stellen, die Fragen nach den Kosten für das Testprogramm der Republik auffallend transparent und vollständig beantworten, ist die Bundesbeschaffungsgesellschaft (BBG). Nach der anfänglichen Chaosphase der Pandemie begann sie für die Regierung mit Bietern Rahmenvereinbarungen per Ausschreibung zu schließen. Aus diesen Paketen können öffentliche Rechtsträger nun Covid-Tests inklusive der nötigen Dienstleistungen (etwa des Betriebs von Teststraßen) abrufen. Müssen dies aber nicht. Das bedeutet: Dienststellen von Bund, Ländern und Gemeinden dürfen ihre Testprogramme nach wie vor auch selbstständig vergeben. Jedenfalls: Bis Ende Mai waren in der BBG Covid-Test-Abrufe im Wert von 577 Millionen Euro dokumentiert.

Zumindest die Gesamtzahl der durchgeführten Tests wird zentral erfasst. Dies jedoch nicht allen Bürgern gleichermaßen zugänglich, sondern wieder in internen, ausdrücklich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Lageberichten. Seit Beginn der Pandemie, also seit März 2020, stehen bis Ende Mai 2021 genau 63,727404 Millionen Covid-Tests in den Büchern. Mit 53,7 Millionen wurde die überwältigende Mehrzahl davon jedoch nicht während der klassischen Virensaison durchgeführt, sondern seit Frühlingsbeginn, also zwischen März und Mai 2021 (siehe Grafik).

Preise: Alles scheint erlaubt

Der Kampf um Marktanteile an diesem gewaltigen, aus öffentlichen Mitteln gespeisten Geschäftsfeld ist in vollem Gang. Die per Gesetz verordnete Nachfrage schafft die unterschiedlichsten Preise. Alles scheint erlaubt. Noch zu Weihnachten bezahlte die Republik für die im Eilverfahren und nach einer "Idee" des Bundeskanzlers zu beschaffenden Schnelltests zwischen fünf und acht Euro pro Stück. Etwa zehn Euro zuzüglich "Infrastrukturkosten" kostet in Wien die Durchführung eines Antigentests in einer Teststraße des Arbeiter-Samariter-Bundes. Gleich viel bekommen Apotheker von der Versicherung für die Ausgabe von Antigentests zur Heimanwendung an Kunden mit E-Card. 28 Euro verrechnet das Rote Kreuz in Kärnten für die Abnahme eines Abstriches für eine PCR-Diagnose. 60 Euro zusätzlich bezahlt die Klagenfurter Landesregierung dann anschließend noch für das Labor. Einen PCR-Schnelltest am Flughafen Salzburg oder in einem Labor in Wien gibt es ab 150 Euro. Dies allerdings nur auf eigene Kosten, Versicherung und Finanzminister steigen spätestens hier aus.

Kampf um Marktanteile

Laborketten wie Lifebrain oder Novogenia investieren inzwischen viele Millionen Euro in neue Diagnosefabriken. Gleichzeitig lobbyieren die Markteilnehmer in eigener Sache. So gingen Kräfte aus der Apothekerbranche hinter den Kulissen gegen das Projekt "Alles gurgelt" in Wien vor, das die Stadt gemeinsam mit Lifebrain, dem Testhersteller Lead Horizon und Vertretern der Wirtschaft aufsetzte. Umgekehrt intervenierten Standesvertreter der Ärzte bis hinauf zum Kammerpräsidenten im Gesundheitsministerium dafür, dass eine andere Form von Tests, nämlich der Nachweis einer durchlaufenden Covid-Erkrankung mittels Antikörperbestimmung, nur von Labormedizinern durchgeführt werden dürfe. Und nicht deutlich kostengünstiger und schneller mittels in Serie gefertigter Apparate vor Ort in jeder Apotheke. Die Vielzahl der Aktivitäten im Wettbewerb zum Thema zeigt, wie groß der Markt geworden ist.

Sonderfall Wien

Die hohe Nachfrage hatte jedoch auch den Effekt, dass die Preise in manchen Segmenten stark gefallen sind. Extrembeispiel hierfür ist der Sonderfall Wien. Hier hat es die Verwaltung mit Ideenreichtum und Sponsoren geschafft, den Vollkostenpreis eines PCR-Tests nach der Gurgelmethode auf etwa fünf Euro zu drücken. Und damit die Kosten für einen Antigentest in einer Teststraße zu unterbieten.

Das regelmäßige "Gurgeln" ist in der Hauptstadt zur Standardmethode geworden. Das veranschaulicht eine Szene, die sich so in einer Filiale der Drogeriekette Bipa im Wiener Bezirk Leopoldstadt abspielte. An der Kassa warten fünf Personen. Alle haben ihr Smartphone in der Hand und führen das Display, das einen Strichcode zeigt, routiniert am Scanner der Kassiererin vorbei: Sie holen sich kostenlose Testsets ab, kaufen aber nichts. "Verkaufen Sie eigentlich auch noch andere Produkte?", fragt einer der Wartenden scherzhaft. Die Angestellte antwortet: "Berechtigte Frage. Manchmal kommt es mir vor, als wären wir nur noch eine Ausgabestation für Coronatests."

Das Wiener Rathaus hat sich jedenfalls für die Fortführung des Testprogramms entschieden. Gesundheitsstadtrat Peter Hacker und sein Team sind der Meinung, dass das Testen von Symptomlosen bisher einiges an Nutzen brachte. Ausreichend viel? "Die Kosten-Nutzen-Frage wird man erst nachträglich beantworten können", heißt es. "Wir wollen verhindern, halbblind in die nächste Welle zu stolpern."

Experte: Massentests verlieren Sinn

Dass das außerhalb der Virensaison passiert, hält Martin Sprenger von der Medizinischen Universität Graz allerdings für äußerst unwahrscheinlich. Der Fachmann für Public Health sagt, dass unterhalb eines bestimmten Werts an tatsächlich Infizierten das massenhafte Testen von Menschen ohne Symptome keinen Sinn mehr mache. "Sowohl gesundheitswissenschaftlich als auch finanziell."

Für den einstigen Regierungsberater liegt dieser Schwellenwert bei 50 von 100.000. Ein Wert, den man hierzulande gerade unterschreite. Und der noch weiter sinken werde. Auch bei Massentests nach der PCR-Methode sei spätestens dann der Grenznutzen erreicht.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (23/2021) erschienen