Notube: Ein heimischer Pionier

Das Ambulatorium in Graz betreut Kinder via Computer und Internet

Das Notube-Ambulatorium in Graz betreut Kinder, die nach einer Sondenentwöhnung essen lernen müssen, aber auch solche, die aus anderen Gründen eine Essstörung entwickelt haben. Das Gros der Behandlungen erfolgt seit vielen Jahren via Computer und Internet. Damit ist die Einrichtung ein heimischer Pionier im Bereich der Telemedizin.

von Telemedizin - Notube: Ein heimischer Pionier © Bild: Helmut Lunghammer

Hausärzte, Fachärzte, Psychotherapeuten: Um Ansteckungen mit dem Coronavirus hintanzuhalten, sind viele von ihnen seit Wochen per Telefon oder Videokonferenz mit ihren Patienten in Kontakt. Viele mussten sich - wie auch die Schulen -innerhalb weniger Tage neu organisieren. Wie helfe ich mit, die Verbreitung des Virus zu stoppen, bin aber weiter für jene Menschen da, die meine Hilfe brauchen? Welches Tool hilft mir am besten weiter? Möglich wurde diese Form der Betreuung von Patientinnen und Patienten vor allem dadurch, dass auch diese Leistungen derzeit von den Krankenkassen abgegolten werden. Hier liegt auch der Grund, warum Telemedizin in Österreich bisher wenig verbreitet war.

Erstattung der Kasse: In Österreich nicht

Wolfgang Kratky ist Geschäftsführer des Notube-Ambulatoriums. Er hofft nun auf ein Umdenken. "Die jeweiligen Berufsgesetze erlaubten schon bisher implizit telemedizinische Leistungen." Sie seien eben nur nicht in Anspruch genommen worden, da die Vergütung fehlte. Notube arbeitet nicht nur mit Familien aus Österreich, sondern weltweit. Die Erstattung durch Krankenkassen bedürfe immer einer Einzelfallgenehmigung und sei je nach Land höchst unterschiedlich. "In Ländern wie der Schweiz, den Niederlanden, Deutschland oder Norwegen wurde unsere Onlinebehandlung oft bezahlt. In Österreich bisher nie."

Günstiger und wirksamer

Kratky würde sich hier seitens der Krankenkassen ein ökonomischeres, aber auch familienfreundlicheres Denken wünschen. Denn: Das als "Grazer Modell" in den 1980er-Jahren von den Kinderärzten und Psychotherapeuten Marguerite Dunitz-Scheer und Ronny Scheer an der Universitätsklinik für Kinder-und Jugendheilkunde Graz entwickelte Konzept zur Behandlung frühkindlicher Essstörungen zeige, dass es als Onlinetherapie einerseits günstiger, andererseits auch wirksamer als im Rahmen von stationären Aufenthalten angewandt werden könne.

Warum haben Kinder Schwierigkeiten zu essen? Dunitz-Scheer, die heute das 2009 als Spin-off der Medizinischen Universität Graz gegründete Notube-Ambulatorium leitet, schildert gegenüber News zwei ganz unterschiedliche Fälle. Der neunjährige Holger (beide Geschichten wurden anonymisiert, Anm.) aß nur in Butter herausgebackene kleine Wiener Schnitzel, die seine Mutter für ihn in einer bestimmten Bratpfanne zubereitete, und, wenn er unterwegs war, nur Kinder Pinguí, und das seit dem zweiten Lebensjahr, nachdem ihn seine Mutter abgestillt hatte. Er sei ein fittes, fröhliches Kind, erzählt die Ärztin, Blutuntersuchungen hätten auch keine nahrungsbedingten Mängel gezeigt. Allerdings wollte der Bub im Sommer auf ein Fußballcamp fahren -die Bedingung des Trainers war jedoch, dass er bis dahin "normal essen" könne.

Die Eltern wandten sich an das Notube- Ambulatorium, das auch eine Esslernschule vor Ort betreibt. In einem Intensivkurs an der Schule fand er eine Umgebung vor, die einerseits Essen bot, andererseits aber zu nichts aktiv animierte. "Holger stelle dem Team viele Fragen. Einerseits schien er ablenken zu wollen. Andererseits beobachtete er sehr aufmerksam, wie kleinere Kinder sich bemühten, erstmals kleinste Mengen Nahrung überhaupt in den Mund zu nehmen. Plötzlich fragte er eine Helferin, ob er ein Eis haben dürfe, bekam eines und begann vorsichtig zu schlecken." Den verdutzten Eltern wurde gesagt, keine Kommentare abzugeben, kein Lob auszusprechen und keine weiteren Vorschläge zu machen. Daraufhin normalisierte sich sein Essverhalten Stück für Stück.

Sichere Lösung

Es gibt aber Kinder, die keinem Infektionsrisiko ausgesetzt werden dürfen. Dazu zählen etwa Mädchen und Buben, die nach einer Krebstherapie immunsupprimiert sind. Für diese entwickelten die Experten von Notube ein Telemedizinkonzept mit einer technisch und datenschutzrechtlich sicheren Lösung für die Archivierung von Arztbriefen, Befunden und Videos, so Kratky. Videos sind eines der wichtigsten Instrumente für das 15-köpfige Team, das sich aus Kinderärzten, Psychologen, Psychotherapeuten, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Ernährungspädagogen und Ernährungswissenschaftlern zusammensetzt. "Uns interessiert vor allem das Verhalten unserer kleinen Patienten, also der Babys und Kleinkinder", erklärt Dunitz-Scheer. Die wertvollsten Informationen erhalten die Experten nämlich durch die Kinder selbst, und zwar prä-und nonverbal.

Das war auch bei der zweijährigen Alma so. Das Mädchen kam zwei Monate zu früh und mit einem komplexen Herzfehler sowie einer Darmfehlbildung zur Welt. Ihre ersten sieben Lebensmonate verbrachte sie im Spital und wurde in dieser Zeit neunmal operiert. "Alma hatte medizinisch gesehen ein Riesenglück und behielt nach der auch für die Eltern massiv belastenden Zeit nur ein paar Narben sowie eine Nasensonde zurück, über welche sie seit ihrer Geburt künstlich ernährt worden war", so Dunitz-Scheer. Der Umstieg auf das Selberessen gelang jedoch nicht. Obwohl sie die Sondenernährung immer schlechter vertrug -sie erbrach täglich bis zu 30-mal -, lehnte sie es ab, gefüttert zu werden. Um sie keiner Infektionsgefahr auszusetzen, wurde Alma per Telemedizin von Notube betreut. 49 Tage dauerte dieser Prozess, während welchem 26 Videos analysiert wurden und 169-mal mit den Eltern online über die jeweils nächsten Schritte kommuniziert wurde. Inzwischen trinkt das Mädchen Flaschennahrung und isst Brei.

Zehn Prozent der Patienten aus Österreich

Mittels Telemedizin kann Notube auch Kinder im Ausland betreuen. Zehn Prozent der kleinen Patienten kommen aus Österreich, der Rest lebt in allen Teilen der Welt. Das gesamte Therapieteam kommuniziere gut auf Englisch und Deutsch, es könne aber auch auf Französisch, Italienisch oder Spanisch gearbeitet werden. Pro Jahr besuchen rund 75 Sondenkinder die Esslernschule (die meisten von ihnen reisen dazu aus dem Ausland nach Graz) und werden im Anschluss telemedizinisch nachbetreut. Weitere 75 Sondenkinder werden nur online betreut -nötig sind dazu im Haushalt der Familie lediglich ein Computer und Internet. Weitere 50 Kinder pro Jahr sind sogenannte "picky eaters" wie der neunjährige Holger.

Sicherheit für die Eltern

Bei den meisten dieser Kinder wurde schon vieles probiert, schildert Dunitz-Scheer: "Aber Essen zeigen, voressen, Vorschläge machen, Lieblingsspeisen andenken -das ist alles nicht der richtige Weg. Denn Erwartung und Druck produzieren Widerstand." Was mache das Team von Notube anders? Zuerst werde geschaut, was schon versucht wurde und wie das Mindset der Eltern sei. Dann werde genau die medizinische Situation erhoben. Welche Vorerkrankungen gibt es, welche Operationen und Behandlungen wurden durchgeführt? Schließlich gehe es darum, bei den Eltern ein Sicherheitsgefühl zu erzeugen und zu Hause ein stressfreies Setting aufzubauen. Nur so fangen die Kinder dann von selbst zu essen an, so die Ärztin. Zu essen sei ein genetisch programmierter Überlebensmechanismus und Hunger sei ein Trieb. "Wenn das Kind aber etwa durch die extern modifizierte Sondenernährung gar nicht weiß, wie sich Hunger anfühlt, muss es erst einmal seinen Hunger-Sättigungs-Biorhythmus entwickeln, und das ist eben eine große Umstellung für das Kind, aber auch eine Herausforderung für die Eltern." Diese geraten in Stress und üben Druck aus, damit das Kind endlich isst. Ein Teufelskreis, den man jedoch durchbrechen könne, indem man "eine natürliche, entspannte Esswelt schafft". Das gelingt am besten zu Hause. Und die Experten von Notube schalten sich dank moderner Technik dazu.