Die Telekratie frisst ihre Patchwork-Kinder

Nein, Karl Nehammer kann nicht den Kurz machen. Aber Pamela Rendi-Wagner fürchtet zu Recht das TV-Interview. Werner Kogler schwafelt sich irgendwie durch. Beate Meinl-Reisinger stresst mit Permanent-Entrüstung. Bleibt Herbert Kickl. Am besten, wo er ist.

von Medien & Menschen - Die Telekratie frisst ihre Patchwork-Kinder © Bild: Gleissfoto

Sie hat schon wieder einen Elfer verschossen. Gleich nach der Frauen-Fußball-Euro war ein möglicher Austausch von Karl Nehammer Tagesgespräch und Pamela Rendi-Wagner zu Gast in der "ZiB 2". Doch statt als Alternative zum ÖVP-Kanzler zu wirken, offenbarte die SPÖ-Chefin so viel wirtschaftliche Inkompetenz, dass sogar Interviewer Armin Wolf Mitleid vor allzu viel Nachfragen walten ließ. Allein für ihre Behauptung, die Energieversorger wüssten die Einkommensverhältnisse ihrer Kunden, hätte er die rote Galionsfigur gesprächsfüllend festnageln können. Der türkis-schwarze Gegenpart kaschiert sein ökonomisches Wissensdefizit wenigstens besser. Doch Nehammer ist deutlich fader als FPÖ-Kopf Herbert Kickl: Mit 7,6:6,7 Prozent gewann der blaue Polit-Beelzebub das Quoten-Match bei den Puls 4-Sommergesprächen. Auch Neos-Vorsitzende Beate Meinl-Reisinger und der grüne Bundessprecher Werner Kogler wirken kurzweiliger als der Kanzler und seine sozialdemokratische Herausforderin.

So wie Nehammer keinen Kurz kann, reicht Rendi-Wagner nicht an Kern heran. Die aktuellen Regierungs-und Oppositionsspitzen hinken ihren Vorgängern als Politikdarsteller weit hinterher. Weil parallel dazu das Vertrauen in sie auf den Tiefststand gesunken ist, wird die Frage nach dem historisch schlechtesten Parteipersonal laut. Spätestens bei einem solchen negativen Superlativ sind aber die Kriterien dafür zu hinterfragen. In diesem Fall heißt das: Wird die öffentliche Wahrnehmung dem gesellschaftlichen Anspruch an Politik gerecht?

Die Rahmenbedingungen dafür bildet längst die Telekratie. Für alles, was über Kommunal-und Regionalpolitik hinausgeht, hat Fernsehen (wie neuere Bewegtbildmedien) übermäßige Bedeutung. Das aber wiederum erfordert mehr Schauspiel-und Vermittlungskompetenz als inhaltliche und organisatorische Fähigkeiten. Dadurch gewinnen Darsteller gegenüber Machern einen uneinholbaren Vorsprung. Österreich hat diesen Sprung zu den Traumwandlern der Postdemokratie mit dem Wechsel von Werner Faymann zu Christian Kern und Reinhold Mitterlehner zu Sebastian Kurz erlebt. Wobei der letzte SP-Kanzler für ein endgültiges Urteil, ob seine Show genug Substanz hatte, zu kurz regierte. Sein VP-Nachfolger nicht.

In Deutschland wurde dieser Bruch durch die gefühlt ewige Kanzlerin Angela Merkel verzögert. Nun muss auch der ob seiner Kommunikation gefeierte grüne Vizekanzler Robert Habeck erst beweisen, dass mehr dahintersteckt. In Frankreich bleibt Emmanuel Macron bisher Politik schuldig, die seinem glänzenden Auftreten entspricht. Die USA und Großbritannien haben hingegen unter Donald Trump und Boris Johnson schon ihren Absturz erlebt. Italien war mit Silvio Berlusconi Europas Wegbereiter der Telekratie. Aus dieser internationalen Perspektive wirkt es geradezu verblüffend, dass Österreich trotz Pop-Politik-Pionier Jörg Haider noch nichts Schlimmeres widerfahren ist als Kurz &Co.

Die erschreckenden Mängel von Nehammer und Rendi-Wagner lassen sich nicht schönreden. Wenn das, was wir von ihnen schon fern-sahen, auch Verhandlungswirklichkeit sein kann, bedeutet das für Kontrahenten von der europäischen Ebene bis zu den Landeshauptleuten leichtes Spiel. So gesehen ist TV-Wirkung ein Indiz für politische Qualität. Aber wir bewerten das zu hoch und gehen Blendern allzu leicht auf den Leim. Im Gegenzug schätzen wir die Sacharbeit ohne viel öffentliche Begleitmusik zu gering. Unser Messsystem zur Bewertung politischer Leistung benötigt eine Neujustierung, in der Medienwirkung nicht mehr die, sondern nur eine Hauptrolle spielt - weniger wäre auch unrealistisch.

Dazu müssen sich neben Mandataren und Kandidaten auch Journalisten und Konsulenten verändern, aber vor allem der Anspruch der Bürger an exponierte Akteure im demokratischen System. Denn der Schritt von der Telekratie zur Telekratur ist kleiner, als es uns in vielen Jahren trügerischer Sicherheit erschien.

Ungeachtet der Nehammers und Rendi-Wagners sehen wir aktuell aber auch den Hoffnungsschimmer eines Auswegs aus der Darstellungsfalle. Die Verfassungsrichter treffen langfristig enorm wichtige politische Entscheidungen ganz ohne TV-Trara.