"Was darf man
noch erwarten ...?"

Schenkelhals mit 92 Jahren. Macht das Gesundheitssystem Tante Helli zum Pflegefall?

Drei Monate nach dem Einzug ins Alterswohnheim stürzt Tante Helli und bricht sich den Oberschenkelhals. Wenn sie nicht mehr auf die Beine kommt, bleibt sie ein Vollzeitpflegefall. Aber zahlt sich eine Therapie mit fast 92 Jahren aus? Und wer zahlt den Preis dafür?

von Tante Helli - "Was darf man
noch erwarten ...?" © Bild: Nina Strasser/News

Wenn ich sterbe", sagt Tante Helli, "wäre es schön, wenn jemand neben mir steht und sagt: Pfiat di Gott! Fahr in den Himmel oder in die Hölle. Oder mach Abstecher: Kannst einmal rauf, einmal runter."

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Tante Helli hat sich bei einem Sturz den Oberschenkelhals gebrochen. Um Mitternacht erreichte mich ein Anruf aus dem Alterswohnheim, wo sie seit vergangenem Oktober lebt. Jetzt zeigt die Uhr drei Stunden später. Tante Helli liegt aufgebahrt im Krankenhaus auf einem Bett im Gang, ein Arzt kontrolliert die Röntgenbilder, ich filme ihre vermeintlich letzten Worte. Vorsorgevollmacht und Testament sind noch "to do", lieber planten wir die Geburtstagsparty. In einem Monat und einer Woche wird Tante Helli 92 Jahre alt.

Meine Schwester Eve und ich sind ihre Großnichten, eigene Kinder hat sie nicht. Früher kümmerten wir uns kaum um sie, erst seit einem Jahr bilden wir ein Dreierteam. Der Übersiedlung ins Alterswohnheim ging ein Überredungsdrama voraus. Die Tante stürzte viel, merkte sich wenig. An guten Tagen wollte sie in ihren vier Wänden sterben, nur an schlechten wollte sie "ins Heim". Am Ende überzeugte sie das "Haus Prater". Das bietet nebst betreutem Wohnen im Apartment einen eigenen Balkon.

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Tante Helli kämpfte oft mit Tränen, wir kämpften mit dem Rest. Die neue Wohnung füllen, die alte besenrein entleeren, Blumen pflanzen, Wäsche waschen, dazu Zettelwirtschaft ohne Ende: Ein langes Leben neu zu organisieren, bedeutet mehr, als man hier aufzählen kann. Jetzt schiebt ein Pfleger Tante Helli in ein Krankenzimmer. In der Früh kommt sie unters Messer, und ich blase die Geburtstagsparty ab.

Ein Sturz, drei Monate

"Was darf ich noch verlangen in meinem jugendlichen Alter?", fragt Tante Helli rein rhetorisch. Die Antwort schwingt im Tonfall mit: nicht viel. Darum gelte es, ist sie sich sicher, mit allem irgendwie zufrieden zu sein. So beklagt sie zwar im Krankenhaus das Essen, würgt die Bissen dennoch hinunter. Was übrig bleibt, versucht sie, den Besuchern anzudrehen. Lieber mag sie Krankenpfleger, aber Schwestern tun es auch. Der Nagel, der jetzt im Schenkel steckt? Egal. Hauptsache, die Großnichten besuchen sie täglich.

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Die Stimmung kippt am dritten Tag nach der OP. Da sollen sie die Beine die ersten zwei, drei Meter tragen. Ihr fehlt es noch an Kraft, den Physiotherapeuten fehlt es an Zeit. Stundenlang klebt sie danach im Sessel, um das Sitzfleisch zu trainieren. Denn wer das Krankenhaus auf zwei Beinen nicht verlässt, wird auf vier Rädern rausgeschoben. Knie heben, Füße kreisen: Die Übungen, die wir ihr zeigen, vergisst sie mit unserem Verschwinden.

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Schnellstmöglich muss Tante Helli in Therapie. Wer wie sie in einem "Haus zum Leben" wohnt, hat auch Anspruch auf einen Platz in einer sogenannten Remobilisierungsstation. Fast drei Wochen beträgt für uns die Wartezeit. Im Krankenhaus kann sie so lange nicht bleiben, im Appartement kann sie im Rollstuhl nicht leben. Die Lösung nennt sich Pflegeheim. Wo das ist und wie es aussieht, scheint dem Zufall überlassen. Tante Helli fürchtet sich vor Lainz, das seit dem Pflegeskandal Krankenhaus Hietzing heißt. Da wird im "Haus Prater" eines der Pflegebetten frei. Wir übersiedeln an Tag sechs nach dem Sturz. Ab jetzt läuft die Zeit. Drei Monate im ganzen Jahr darf sie sich pflegen lassen, um ins betreute Wohnen zurückzukehren. Drei Monate und ein Tag, und das Apartment mit Balkon ist für sie Geschichte. Damit auch ihr Lebenszweck. Das gilt es für uns zu verhindern. Was kann man von Tante Helli noch verlangen in ihrem jugendlichen Alter? Wobei hilft uns das System?

Vier Räder, zwei Zimmer

"Jünger werden wir nimmer, aber immer dümmer", sagt Tante Helli. "Bin ich schon sehr deppat?" Mit dem körperlichen Verfall schreitet der geistige voran. Wo sie jetzt wohnt, ist ihr ein Rätsel. Im sechsten Stock des "Hauses Prater" liegt ihr Apartment, im ersten ist das Pflegezimmer, das sie sich mit einer anderen teilt. Oben hat meine Schwester die antiken Möbel mit Blumen dekoriert. Unten schmücken wir ihr nichts, Krankenbett und halber Kasten sind und bleiben klinisch leer.

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Wer im betreuten Wohnen lebt, kann tun und lassen, was er will. Am liebsten spielt Tante Helli mit einer Freundin Karten und trinkt am Abend ein Achterl Wein. Als Mieterin des Pflegezimmers sitzt sie meist an einem Tisch, den sie nicht verlassen kann. Zwar reicht ihre Muskelkraft, um an den Rollstuhlrädern zu drehen, doch wüsste sie nicht, wohin sie will. Die anderen reden kaum mit ihr. Die meisten reden mit sich selbst. Tante Helli trägt jetzt Windeln, für das Essen braucht man keine Zähne. Wer hier unten einmal sitzt, steht normalerweise nicht mehr auf.

Weil nach dem Abendessen um fünf Uhr nachmittags die wenigsten sehr müde sind, serviert man vom Arzt verschriebene Schlaftabletten. Gedächtnislücken, Sturzgefahr und Aggressionen: Nur ein paar der Nebenwirkungen. Augen zu und runterschlucken: So funktioniert das System. Hier geht es nicht um das Fitterwerden, hier ist für die meisten Endstation. Eine Pflegerin rät uns freundlich, Tante Helli hier zu lassen und die Remobilisation abzublasen. Sollte sie es dort nicht schaffen, wieder selbstständig zu werden, ist nicht nur das Apartment, sondern auch das Pflegebett im ersten Stock Geschichte. Dann muss sie zum Schluss woanders hin. Das wollen wir nicht, denn eins scheint sicher: Die Pflegekräfte, die hier schuften, geben alles, was sie geben können.

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Wir wissen nicht, ob es richtig ist, aber wir einigen uns zu dritt: besser, Tante Helli schafft es auf die Füße und bricht sich beim nächsten Sturz den Hals, als weiter gut umsorgt am Tisch zu sitzen.

Kein Job, viel Arbeit

"Das wird mir alles zu viel. Muss das sein?", fragt Tante Helli. Wir bugsieren sie täglich vom ersten in den sechsten Stock, um ihr unser aller Ziel sowie einfache Bewegungen zu zeigen. Alles passiert in Zeitlupe, nur die Uhr dreht sich anscheinend schneller. Um eine Stunde mit Tante Helli zu üben, vergeht fast ein ganzer Tag. Unsere Arbeitsplätze sehen uns schon lang nicht mehr. Die eine hat sich frei genommen, die andere ist freigestellt. Unser neuer Job ist, Tante Hellis Leben retten.

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Wir finden eine Physiotherapeutin, die für rund 500 Euro zehn Hausbesuche macht. Neben der Arbeit mit der Patientin muss sie unsere Zuversicht bestärken. Den Großteil der Kosten zahlen wir aus unserer Tasche. Tante Helli kassiert Mindestpension plus Pflegegeld. Abzüglich der Kosten für das Pensionistenwohnheim bleibt ihr ein Taschengeld. Zwei Bilder und den schwarzen Kasten gilt es zu vermachen, darum schreibt sie ein Testament.

Für den Fall des Ablebens im "Haus Prater" kann sie bei der Sozialarbeiterin sogar Sterbewünsche deponieren. Als Musik ordert sie das Phantom der Oper. Zum Benetzen austrocknender Lippen bestellt sie Eiswürfel, die nach ihrem Lieblingsrotwein schmecken. Um Medizinisches zu entscheiden, wenn es Tante Helli nicht mehr kann, benötigen wir eine Vorsorgevollmacht um 600 Euro vom Notar. Die Sozialarbeiterin ist auf Zack und organisiert für viele der Bewohner einen Sammeltermin. Das kommt billig. Und kommt hoffentlich noch rechtzeitig.

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"Man darf halt nicht nachlassen", sagt Tante Helli. Drei Wochen nach dem Sturz zieht sie endlich im "Haus Wieden" ein, um mit der Remobilisation zu beginnen. Tante Helli tut schon Trippelschritte, den Rollstuhl lässt sie im "Haus Prater" zurück. Sie ist bis in die Haarspitzen motiviert. Ab jetzt wird dreimal täglich mit ihr trainiert. Ein Physiotherapeut scheucht sie durch das Programm. Über Hindernisse muss sie steigen und zwischen Barrenstangen balancieren und dabei auf Englisch rückwärts zählen. Seidentücher fangen links und rechts: Unfassbar, was in Tante Helli steckt. Und als finalen Akt der Einheit zieht sie den jungen Mann als Rollwagerl-Gespann durch den langen Gang. Der Ehrgeiz hat sie voll gepackt, sogar das Hirn springt wieder an. Und wir dürfen plötzlich ganze Tage ohne Tante Hellis Fragen haben.

Nach 16 Tagen auf der Station hat sie den Rollstuhl längst vergessen. Die Windeln rührt sie nicht mehr an. Der Tag der Rückkehr ins "Haus Prater" ist ein dreifacher Triumph. Nur zwei Tage später steigt die Geburtstagsparty. Bis zur Sperrstunde stößt sie bei ihrem Stammheurigen 10er Marie mit 15 ihrer Freunde an. So mancher, der sie auf der Pflege sah, hatte sie wohl heimlich aufgegeben.

100 Fragen, ein paar Vögel

"Nur Zähne putzen ist einfach", sagt Tante Helli, "die schmeißt man einfach ins Wasser." Im betreuten Wohnen ist unsere Mitarbeit wieder gefragt. So macht sich im Appartement vieles aus dem Staub, anderes ist kaum loszuwerden. Tante Helli sammelt Papierservietten. Die Butter, die sie im Kühlschrank hortet, kann sie in diesem Leben nicht mehr essen. Früher diskutierte ich deswegen, jetzt lasse ich Benutztes und Vergammeltes verschwinden.

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Tante Helli besucht jetzt eine neue Gruppe, "Tag-Familie" nennt sich die. Dort wird viel Kaffee getrunken oder im Malbuch rumgekritzelt. Etwas fad, findet Tante Helli, aber sie gewöhnt sich an das Programm wie auch an die Lieferdienste: Ob Essen oder Fußpflege, man bringt sie hin und holt sie ab. Dank Pflegestufe drei wäscht jetzt das Wohnhauspersonal die Wäsche, ebenso wie Tante Helli selbst.

An warmen Frühlingstagen sitzt sie am liebsten am Balkon. Die Blumen dürsten stets nach Wasser, und die Vögel kacken ihr den Boden voll. Endlich hat sie etwas Sinnvolles zu tun. Nach vollbrachter Putzattacke schläft sie in ihrem Liegestuhl ganz ohne Schlaftabletten ein.

"Was tät ich ohne euch?", fragt uns Tante Helli oft. Sie stellt am Tag rund 100 Fragen. Diese eine stellen wir uns auch.

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