Sexueller Missbrauch:
Sport unter Zugzwang

Wieder soll ein Trainer Kinder sexuell missbraucht haben. Was tun die Verbände?

von Tabuthema - Sexueller Missbrauch:
Sport unter Zugzwang © Bild: Shutterstock

Mindestens zehn Jahre lang soll der Volleyballtrainer das Vertrauen seiner Schützlinge ausgenutzt haben, am vergangenen Donnerstag wurde er festgenommen. Die Vorwürfe lauten mehrfacher schwerer sexueller Missbrauch, Herstellung von Kinderpornografie und Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses. Die Polizei sucht nach weiteren Opfern des 60-Jährigen Mannes, der im 2. und 20 Bezirk in Wien Kinde rund Jugendliche trainierte, aber auch in Klagenfurt mindestens ein Kind missbraucht haben soll. Im Sportverein soll niemand etwas davon geahnt haben. Wie konnte er so lange unentdeckt bleiben? Und welche Konsequenzen können gezogen werden, damit der Ruf des Sports keinen Schaden nimmt? Bisherige Taktik: Unter den Tisch kehren.

Das Tabuthema

Im Sport zählen Sieger, keine Opfer. Sexualdelikte sind ein Tabu. Der 48-jährige Wiener Sporttrainer, der vergangenen Sommer zu mehrmonatiger Haft verurteilt wurde? Der 61-jährige Mannschaftstrainer aus Oberösterreich, der 2014 schuldig gesprochen wurde? Randnotizen. Sie hatten jeweils Mädchen unter zwölf Jahren missbraucht. Bedauerliche Einzelfälle? Wohl kaum, wie es sich Ende des Vorjahres in Großbritannien zeigte: Nachdem Ex-Fußballprofi Andy Woodward seinen Jugendtrainer öffentlich des Missbrauchs beschuldigt hatte, meldeten sich rund 350 ehemalige Spieler bei der Polizei, um von Übergriffen durch Betreuer und Scouts zu berichten. Neben den konkreten Vorwürfen versucht die Polizei zu klären, ob von Vereinen Hinweise missachtet oder gar Fälle vertuscht wurden.

Auch bei den Holländischen Erstligisten PSV Eindhoven und Vitesse Arnheim soll es zu Missbrauchsfällen gekommen sein und im deutschen Olympiastützpunkt der Fechter in Tauberbischofsheim steht aktuell ein Trainer unter Verdacht, jahrelang Schützlinge belästigt zu haben. Spiegel.de schreibt dazu: "Statt endlich aufzuklären, versuchen Verantwortliche vor allem eines: Den Ruf des Klubs zu retten." In Wien steht mit Peter Seisenbacher gar ein Doppelolympiasieger unter Missbrauchs-Verdacht. Das Vorgeworfene liegt viele Jahre zurück, der Beschuldigte ist vor Prozessbeginn im Dezember 2016 untergetaucht. Was passierte, kann wohl niemals zweifelsfrei aufgeklärt werden.

Was wird eigentlich unternommen, um Kinder und Jugendliche im Spitzensport vor Übergriffen zu schützen - oder Trainer vor falschen Anschuldigungen? News stellte diese Frage österreichischen Sportverbänden.

Keine Richtlinien im Sport

Zwei Spitzensportler, die Österreich bei internationalen Wettkämpfen vertraten, saßen vor ein paar Jahren in der Kanzlei von Rechtsanwalt Klaus Dorninger. Ihre Karrieren standen vor dem Aus, und damit erledigte sich für sie der Grund ihres jahrelangen Schweigens. Keine 16 waren sie, als sie von ihrem Trainer sexuell missbraucht wurden.

Dorninger ist als Anwalt zwar auf Wirtschaft spezialisiert. Als ehemaliger Leistungssportler und Ex-Trainer versteht er aber auch die Mechanismen, die im Sport wirken: das fast grenzenlose Vertrauen von Eltern wie Kindern einem Trainer gegenüber; die Abhängigkeiten, die zwischen Athlet und Betreuer entstehen. Im Fall der beiden Klienten hatte der Täter das enge Verhältnis ausgenutzt, um die jungen Sportler bei sexuellen Handlungen zu filmen. Später kam es auch zu körperlichen Übergriffen.

»Kritisch wird es, wenn sich der Trainer einen Athleten als Liebling aussucht«

"Ein Trainer betreut einen Sportler beim sportlichen Weiterkommen, aber auch in der persönlichen Entwicklung", analysiert der Anwalt. "Kritisch wird es, wenn er sich einen Athleten als Liebling aussucht, der sozusagen spezielle Zuckerln von ihm bekommt." Die Grenzüberschreitung passiere fast unbemerkt: "Der Trainer signalisiert dem Sportler: Ich mache alles für dich, jetzt musst du auch etwas für mich machen." Das Urteil lautete im konkreten Fall: mehrmonatige unbedingte Haftstrafe. Den Mandanten kamen vor Gericht Beweise zugute. Allerdings sei in solchen Fällen oft allein die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Seite entscheidend, gibt Dorninger zu bedenken: "Das Einhalten gewisser Richtlinien im Umgang miteinander würde die Klärung sehr vereinfachen.

Gerade auch in Fällen, in denen die Vorwürfe nicht gerechtfertigt sind." Der damalige Vorstand des betreffenden Verbands bemühte sich nicht um solche Richtlinien, sondern darum, das Thema schnell vom Tisch zu haben.

Verpflichtende Richtlinien zur Prävention von sexuellem Missbrauch gibt es im österreichischen Sportsystem nicht. Zwar unterschrieben die Vertreter der in der Bundessportorganisation gemeldeten Verbände 2015 eine grundsätzliche Erklärung, die Präventionsoffensive brachte 2016 aber kein nennenswertes Resultat. Es fehlt an ausgebildeten Ansprechpartnern, an Aufklärung. In den Trainerausbildungen wird das Thema höchstens gestreift.

Um Kinder und Jugendliche zu betreuen, muss man nicht einmal eine Strafregisterbescheinigung vorlegen, durch die einschlägige Vorstrafen ausgeschlossen werden könnten. Vereine und Verbände verlangen sie schon deshalb nicht, um Ehrenamtliche nicht zu verschrecken. Ohne sie funktioniert das System nämlich nicht. Eine Ausnahme ist der Österreichische Fußballbund (ÖFB), im Schwimmverband (OSV) arbeitet man daran. Leichter tut man sich dort, wo Trainer Gehalt beziehen. Das aber ist gerade im Nachwuchsbereich selten.

Stalking beim Training

Miriam D. ist 18 Jahre alt, in ihrer Sportart ist sie sehr erfolgreich, darum wird ihr richtiger Name nicht genannt. Sie habe eine große Klappe, sagt sie. "Gefallen lasse ich mir sicher nichts." Trotzdem könne sie nicht zählen, wie oft sie von älteren Sportkollegen begrapscht worden sei. Eindeutige Kommentare hörte sie schon als Elfjährige. Damals habe sie unter der Anmache sehr gelitten, sagt sie. In der Pubertät wurden ihre Brüste kommentiert.

»Ich hatte Angst, meine Eltern würden mich nicht weiter diesen Sport machen lassen«

Sie zog sich anders an. Sie fühlte sich von einem doppelt so alten Trainingspartner gestalkt. Sie schwieg. "Ich hatte Angst, dass mich meine Eltern nicht weiter diesen Sport machen lassen würden", sagt sie. Den Verein zu wechseln kam aus sportlichen Gründen nicht infrage. Weil die Eltern irgendwann einen Hinweis bekamen, flog der aufdringliche Mann zwar aus dem Verein. Ein Funktionär aber ist immer noch im Amt, der ihr mit einem Augenzwinkern angeboten hat, sich näher mit ihr beschäftigen zu wollen. "Jeder weiß, dass er hinter jeder jungen Frau her ist", sagt D. Es fände sich sonst niemand für den Posten.

In Österreich fehlen Zahlen zu Missbrauchsfällen im Sport. In Deutschland untersuchten die Sporthochschule Köln und das Universitätsklinikum Ulm Häufigkeit und Formen von sexualisierter Gewalt im Wettkampfsport. Das Resultat wurde Ende 2016 veröffentlicht: Ein Drittel von 1800 befragten Kaderathleten hatte mindestens einmal eine Form von sexualisierter Gewalt im Sport erfahren, einer von neun hatte laut Studie schwere und/oder länger andauernde sexualisierte Gewalt im Sport erlebt. Die Mehrheit der Betroffenen war bei der ersten Erfahrung unter 18 Jahre alt. So erschreckend die Zahlen klingen: Spitzensportler sind nicht häufiger sexualisierter Gewalt ausgesetzt als die Allgemeinbevölkerung. Seltener aber auch nicht.

Rosa Diketmüller vom Institut für Sportwissenschaft der Uni Wien veröffentlichte schon 1997 einen Artikel über Missbrauchsprävention im Sport. Als sie 2000 ein Radiointerview zum Tabuthema gab, hagelte es Kritik von Sportverantwortlichen. "Das überhaupt anzusprechen schien ein No-Go", sagt sie. "Inzwischen hat sich zumindest etabliert, offiziell nicht dagegen zu sein." 2014 empfahl die EU ihren Mitgliedern, Aktionspläne zu erarbeiten, um die Gleichstellung von Frauen und Männern im Sport voranzutreiben.

»In Organisationen, in denen man darüber redet, gibt es signifikant weniger Fälle«

In Österreich betraute das Sportministerium mit dieser Aufgabe den Verein "100% Sport". Diketmüller leitet die Arbeitsgruppe "Sexualisierte Gewalt". Die Aufmerksamkeit hielt sich bisher in Grenzen. Anfang 2017 erschien zwar eine Info-Broschüre für die Vereine - von der Prävention bis zum Anlassfall. Kurz vor der Präsentation sagten Sportminister Hans Peter Doskozil und BSO-Präsident Rudolf Hundstorfer ihr angekündigtes Erscheinen wieder ab.

„In Organisationen, in denen man darüber redet, gibt es signifikant weniger Fälle", sagt Sportwissenschaftlerin Diketmüller .Sie ist auch Partnerin des EU-Projekts Voice, bei dem Erfahrungsberichte von Opfern gesammelt werden, um Entscheidungsträger im Sport zu sensibilisieren. "Es ist schwierig, Betroffene zu finden, die darüber sprechen können", sagt die Expertin. "Viele sind traumatisiert und realisieren erst Jahre später ihre Gewalterfahrungen. Viele denken außerdem, dass es normal ist, hin und wieder betatscht zu werden." Auch Jugendliche können Täter sein, auch Erwachsene werden Opfer. Diketmüller: "Einige sind zu vielem bereit, um für Wettkämpfe aufgestellt zu werden, auf die sie sich ein Leben lang vorbereitet haben." Ihr Vorschlag ist, Sportförderungen künftig auch an Präventionsarbeit zu knüpfen.

Der Verdacht

Susanne S. arbeitet seit zwei Jahren als Vereinsfunktionärin, von Anfang an quält sie ein ungutes Gefühl. Das Interesse eines Kindertrainers an seinen Schützlingen scheint ihr suspekt. Der Mann wahrt im Umgang mit kleinen Mädchen nicht jene Grenzen, die sie für angebracht hält. Für eine Anzeige aber fehlen die Beweise. Und um die Kinder zu befragen, fehlt ihr die Ausbildung. Schaden möchte sie dem Trainer mit ihren Verdächtigungen nicht, schon gar nicht dem Verein. Die Eltern der Kinder sind mit der Betreuung sehr zufrieden.
Auch zwischen den Trainingseinheiten passt der Mann auf die Mädchen auf. Sogar den Garderobenbereich der Mädchen betritt der Mann. Die Funktionärin sucht im Internet nach Regeln, um sie in der Turnhalle aufzuhängen. Passende findet sie nicht. Im Verband, wo sie bei erfahrenen Funktionären nach Hilfe fragt, blitzt die junge Frau ab. "Es scheint, dass Dinge, die immer schon so gehandhabt werden, einfach so bleiben sollen", sagt sie. Susanne S. fürchtet Probleme. Sie bleibt anonym.

»Für die Betroffenen ist es wichtig zu wissen, dass es eine Ansprechperson gibt, für die das Thema normal ist«

Die Landessportorganisation in Salzburg setzt um, was andere planen. Seit drei Jahren klärt Chris Karl, Sportwissenschaftlerin und forensische Psychologin, in Schulen und Vereinen auf. Bei Verdacht auf Missbrauch ist sie die erste Adresse. "Für die Betroffenen ist es wichtig, zu wissen, dass es eine Ansprechperson gibt, für die das Thema normal ist. Das mindert die Hemmschwelle", sagt sie. Die Ausbildung schütze davor, voreilige Schlüsse zu ziehen oder Kinder durch Suggestivfragen zu beeinflussen. Vor Gericht kann die frühe Zusammenarbeit mit einer Spezialistin entscheidend sein.

Nicht jeder, der sich an Kindern vergeht, ist pädophil

Karl, die in den USA die Psyche von Sexualstraftätern untersucht hat, will mit einem Vorurteil aufräumen: "Nicht jeder, der sich an Kindern vergeht, ist pädophil. Die meisten Täter nützen einfach eine leichte Gelegenheit. Sexualstraftäter haben meist an die 100 Opfer, bevor sie auffliegen." Der Sport könne einen besonderen Reiz ausüben. "Normalweise muss ein Täter ein Vertrauensverhältnis lange aufbauen, bevor es zu Körperkontakt kommt. Im Sport ist Körperkontakt erlaubt, man muss sich nicht über Tabus hinwegsetzen."

Die baulichen Gegebenheiten vieler Sportstätten sind ein zusätzliches Problem. Nach Geschlechtern getrennte Garderoben? Nicht immer selbstverständlich. Getrennte Garderoben für Erwachsene und Kinder? Ebenso notwendig, sagt Karl. Besonders wichtig: transparente Regeln, die Trainer, Eltern und Kinder kennen. Etwa das Sechs-Augen-Prinzip, das besagt, dass sich mindestens drei Personen in einem Raum aufhalten sollen - auch, um ungerechtfertigten Verdächtigungen vorzubeugen. "Es gibt keine Veranlassung, sich mit einem Schutzbefohlenen in ein stilles Kämmerchen zurückzuziehen", sagt Karl.

Marcel L. hat erlebt, wie es ist, in Verdacht zu geraten. Jahrelang als Trainer aktiv, lag er im neuen Verein sehr schnell mit dem Präsidenten im Clinch. L. lehnte dessen Vorschlag ab, das Arbeitsverhältnis vorzeitig aufzulösen. "Plötzlich wurde ich von der Staatsanwaltschaft verhört", sagt er. Er habe, so der Vorwurf, Mädchen via Facebook nachgestellt, sie im Training unsittlich berührt. Der Funktionär hatte längst alle Eltern über seinen Verdacht informiert; bei den Ermittlungen konnte jedoch kein Vergehen festgestellt werden. Vor Gericht landete der Fall nur deshalb, weil der Trainer, der die Arbeit einstellte, dennoch sein Gehalt einforderte. Er bekam Recht. "Das alles war rufschädigend und enorm belastend", sagt L. Auch er fordert Regeln für den gemeinsamen Umgang im Sport. Schon zum eigenen Schutz.

Lesen Sie weiter: Missbrauch im Sport - Was dahinter steckt. Expertin Chris Karl erklärt die Mechanismen und gibt Tipps zur Prävention.