Alle Türken im Erdo-Wahn?

Fakten statt Hetze: Warum 73% der türkeistämmigen Österreicher für Erdogan stimmten

Manche Zeitungen machen einem das Leben nach dem Türkei-Referendum zu leicht. Statt Austro-Türken misstrauisch anzusehen oder gar einen "Sturm" heraufzubeschwören, sollte man sich zuerst einmal mit den Fakten auseinandersetzen. Nur wer Zahlen, Hintergründe und Motive versteht, kann erkennen, was wirklich hinter diesem Ergebnis steckt.

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Türkei-Referendum - Alle Türken im Erdo-Wahn?

„Wenn von vier Austro-Türken drei für Erdogans Weg in die Diktatur gestimmt haben, dann, liebe Austro-Türken werden das auch die „Guten“, die „Integrierten“ unter Euch zu spüren bekommen, wenn sie von ihren österreichischen Mitbürgern plötzlich misstrauisch angeschaut werden. Weil wer vermag schon bei drei österreichischen Erdogan-Türken von vier mit Sicherheit zu sagen: Aber der/die doch nicht! Niemand! Ich fürchte, die Zeichen stehen auf Sturm“, schreibt Michael Jeannée in der Kronen-Zeitung. 73% stimmten für Erdogan. Sieben von Zehn. Das klingt nach viel. Und scheint im ersten Moment das von Jeannée Geschriebene zu legitimieren.

Oft lassen sich Zahlen jedoch erst verstehen, wenn sie in einen größeren Kontext eingebettet werden. Und dieser lässt nun einmal nicht zu, alle in Österreich lebenden Türken pauschal zu verurteilen. Denn von den 273.000 Österreichern mit türkischem Migrationshintergrund waren gerade einmal 108.568 wahlberechtigt. 38.215 stimmten für die Verfassungsreform. 13.972 dagegen. Insgesamt nahmen also 52.187 Personen an der Wahl teil. Das sind nicht einmal die Hälfte aller Wahlberechtigten und lediglich ein Fünftel aller Austro-Türken. Die Rechnung, jeden türkeistämmigen Österreicher, der einem über den Weg läuft „misstrauisch anschauen“ zu dürfen geht also nicht auf.

Kein rein österreichisches Phänomen

Trotzdem – die Zustimmung für die Einführung des Präsidialsystems bei Auslandstürken ist in Europa zum Teil weit höher als in der Türkei selbst, wo knappe 51,4 Prozent mit „Ja“ stimmten. Fast drei Millionen Stimmberechtigte leben zurzeit außerhalb der Türkei, drei Viertel davon in europäischen Ländern, die als sogenannte „Gastarbeiter-Zielländer“ gelten. Zu diesen zählen Belgien, Österreich, Niederlande, Frankreich und Deutschland. Hier befürwortete eine deutliche Mehrheit die Machtausweitung. Ungleich niedriger hingegen war die Zustimmung in Tschechien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (13%), den USA (16%) sowie in Großbritannien (20%).

Bildungsniveau deutlich niedriger als bei Österreichern ohne Migrationshintergrund

Laut dem statistischem Jahrbuch für Migration und Integration gibt es zwischen Personen mit türkischem Migrationshintergrund und Österreichern ohne Migrationshintergrund in mehreren Lebensbereichen deutliche Unterschiede. Ungleichheit tritt vor allem im Bildungsbereich auf. Die Folgen davon sind fatal. Denn keine Schulausbildung oder nur eine niedrige formelle Qualifikation, machen die inländische genauso wie die zugewanderte Bevölkerung für gegenseitige Ablehnung empfänglicher. 2015 hatten fast zwei Drittel aller Personen mit türkischem Migrationshintergrund ausschließlich einen Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsstand, lediglich 4% verfügten über einen Hochschulabschluss. Bei der inländischen Bevölkerung beläuft sich der Anteil derer, die nur einen Pflichtschulabschluss aufweisen können auf 11%, rund 17% hatten eine Universität, Fachhochschule oder Akademie abgeschlossen.

Doppelt so hohe Arbeitslosigkeit

Die Arbeitslosenquote bei Migranten aus der Türkei, die keine, über die Pflichtschule hinausgehende abgeschlossene Ausbildung vorweisen können, ist mit 41% dementsprechend hoch. Klare Unterschiede zeigen sich jedoch auch in der durchschnittlichen Arbeitslosenquote: Während diese bei Österreichern bei 8,1% lag, war sie bei türkeistämmigen Österreichern mit 19,8% mehr als doppelt so hoch.

Mehr als die Hälfte aller Austro-Türken Arbeiter

Im Vergleich zu Österreichern, stehen Personen mit Migrationshintergrund folglich statistisch seltener im Erwerbsleben. Drei Viertel aller Österreicher zwischen 15 und 64 Jahren waren im Jahresdurchschnitt 2015 erwerbstätig, bei österreichischen Türken waren es nur 54%. Besser qualifizierte Arbeitskräfte aus den seit 2004 beigetretenen EU-Staaten verdrängen außerdem die geringer qualifizierten und älteren Zuwanderer aus der ersten Generation aus der Türkei. Während in Österreich lediglich 22% als Arbeiter beschäftigt sind, sind es bei türkischen Erwerbstätigen 56%.

Nur 4 von 10 türkischen Frauen im Berufsleben

Eine besondere Herausforderung stellt die Integration von türkischen Frauen in den österreichischen Arbeitsmarkt dar. Lediglich vier von zehn Türkinnen gehen einer Beschäftigung nach. Im Vergleich dazu sind 7 von 10 österreichischen Frauen am Arbeitsmarkt beteiligt. Zurückzuführen ist das vermutlich einerseits auf das geringere Bildungskapital, anderseits auf das noch immer vorherrschende Bild der traditionellen Geschlechterrollen.

Heimisch in Österreich?

Aus dem statistischen Jahrbuch für Migration und Integration geht hervor, dass sich die überwiegende Mehrheit der Personen mit Migrationshintergrund, nämlich 91%, in Österreich völlig oder eher heimisch fühlen. Eine große Rolle spielt dabei der sozioökonomische Status der Befragten: Wer gut verdient, eine höhere Bildung aufweist und auf dem heimischen Arbeitsmarkt besser platziert ist, der fühlt sich signifikant stärker in Österreich heimisch als andere.

»Die paradoxe Botschaft lautet „Integriert euch, aber eigentlich wollen wir euch nicht“.«

Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass sich lediglich 51% der Befragten mit türkischem Hintergrund in Österreich völlig heimisch fühlen. Zu sagen „Du musst dich als Österreicher fühlen“ funktioniert jedoch nicht und löst meist nur das Gegenteil aus, meint Kenan Güngör, internationaler Experte für Integrations- und Diversitätsfragen. Er plädiert dafür, Türkeistämmigen ein Angebot zu machen, zu sagen „Es wäre schön, wenn ihr ein Teil von Österreich seid“ anstatt vorzuschreiben „Ihr müsst, ihr sollt.“ Zugleich sieht er eine gewisse Ablehnung gegenüber Türkeistämmigen in der Gesellschaft: „Die paradoxe Botschaft lautet ‚Integriert euch, aber eigentlich wollen wir euch nicht‘“.

Folgen für das Zusammenleben

Wird sich nach diesem Ergebnis, das laut Jeannée „ein Tiefschlag für Österreich sowie Hohn, Häme und Spott für diese Republik“ ist, das Zusammenleben zwischen der türkischen und österreichischen Bevölkerung ändern? Berivan Aslan, Nationalratsabgeordnete der Grünen, sieht in Erdogan eine Gefahr für die Zerstörung jahrzehntelanger Integrationsarbeit: „Diese Menschen haben verschiedene Identitäten in ihrer Brust und das ist eine Bereicherung für das bunte Europa. Dieser Zustand wird destabilisiert und den Menschen wird das Zugehörigkeitsgefühl weggenommen, indem man ihnen das Gefühl gibt, sie werden eh immer als Mensch zweiter Klasse behandelt.“

Nicht alle in einen Topf werden

Das belegt auch eine Studie des Integrationsfonds, die besagt, dass 50% der Austro-Türken das Gefühl haben, aufgrund ihres Migrationshintergrundes benachteiligt zu sein. Aslans Meinung nach, gibt es derzeit zwei türkeistämmige Gruppen: Eine demokratisch eingestellte, die sich mit den österreichischen Werten identifizieren kann und hier Fuß gefasst hat. Und eine, die es nicht kann. Letztere ist besonders anfällig für die türkische Propaganda. Menschen werden aufgrund dieser importierten Politik aus der Türkei kategorisiert, auch innerhalb der türkeistämmigen Community. Erdogan-Kritiker werden sofort als Staatsverräter oder Türkei-Gegner an den Pranger gestellt. Ein Beispiel vermag dies besonders gut zu illustrieren: Nach geltendem türkischem Recht ist Wahlkampfführung im Ausland verboten. Die türkische Presse berichtet jedoch über extern auferlegte Wahlkampfverbote und Absagen. Aussagen von EU-Politikern werden in der Türkei als Angriff gegen die Türken und den Islam hochstilisiert, Erdogan wird als Opfer von türkenfeindlichen Rechtsextremen inszeniert.

»Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Türkei mit Erdogan gleichzusetzen und alle in einen Topf zu werfen«

Das spielt, so ist Efgani Dönmez überzeugt, wiederum den populistischen Parteien in die Hände. „Das Hereinholen türkischer Innenpolitik nach Österreich löst zu Recht Unverständnis aus. Die Stimmung ist extrem angespannt. Wir dürfen jedoch nicht den Fehler machen, die Türkei mit Erdogan gleichzusetzen und alle in einen Topf zu werfen. Die aufgeklärten Stimmen brauchen unsere Unterstützung. Den anderen Geisteskindern muss man die rote Linien aufzeigen und gegebenfalls aufenthaltsbeendigende Maßnahmen einleiten, wenn man das friedliche Zusammenleben in Österreich nicht gefährden will.“ Ähnlich sieht das auch die ehemalige Integrationsbeauftragte Nalan Gündüz: „Die Community der Türkeistämmigen in Österreich, die nie homogen war und ist, wird nun wieder sehr stark in Schubladen gedrängt. Die Kluften vergrößern sich. Das kann zu einer starken Belastung des friedlichen Zusammenlebens führen.“

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Ein Lokalaugenschein von Christoph Lehermayr.

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