Einmal Rode Grütt, bitte

Auf der nordfriesischen Insel Sylt gibt es alles: Champagner und Rote Grütze, endlose Strände und Plattenbauten. Ein Kurzbesuch reicht, um sich spontan in die Reetdach-Gemütlichkeit zu verlieben.

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Reisen - Einmal Rode Grütt, bitte

Nach 110 Stufen ist der Aufstieg geschafft. 52 Meter, genauer gesagt 52,5 Meter: Die höchste Erhebung von Sylt nehmen selbst ungeübte Wanderer mit links - und werden mit einem Traumpanorama belohnt. "Kommen Sie im August wieder. Dann liegt ihnen ein Blütenmeer zu Füßen", sagt Manfred Seeger, Kenner und Liebhaber der Insel. Wer von der Uwe-Düne ein paar Schritt weitergeht, hält ein weiteres Mal den Atem an: Das Rote Kliff ist eine vier Kilometer lange und 30 Meter hohe Steilküste, die Name und Farbe dem eisenhaltigen Lehm zu verdanken hat. Besonders intensiv leuchtet das Rot bei Sonnenuntergang, verrät Seeger.

Ein Geheimtipp ist das freilich nicht. Den romantischen Spaziergang muss man sich in der Regel mit vielen Schaulustigen teilen. Aber Uwe-Düne und Rotes Kliff sind zweifelsohne zwei Highlights der mit knapp 100 Quadratkilometern viertgrößten deutschen Insel, auf der im Jahr 6,5 Millionen Übernachtungen gezählt werden. Die Gäste besuchen die berühmte Whiskymeile, die in Wahrheit eine Gourmet- und Shoppingmeile im Nobelort Kampen ist und eigentlich Strönwai heißt. Westerland hat ein Erlebnisbad, List eine Austernzucht, und vor Hörnum liegen die Seehundbänke. Es gibt Campingplätze inmitten der Dünen und vier Golfplätze. Vor allem aber gibt es endlose Strände. Und Radwege. Viel Wind und noch mehr Wasser. Ziemlich kaltes Wasser. Auch in den Sommermonaten werden kaum mehr als 18 Grad gemessen. Manfred Seeger sieht das entspannt: "Man muss ja keine halbe Stunde rein."

»Kommen Sie im August wieder. Dann liegt ihnen ein Blütenmeer zu Füßen«

Die meisten kommen ohnehin vor allem zum Surfen. Mehr als einen "kalten Pool" kann Surflehrer Robert heute freilich auch nicht bieten. Es ist Anfang Oktober, es regnet und stürmt -sein Unterricht findet trotzdem statt. Im Sommer hat er bis zu 60 Schüler auf dem Wasser. Heute sind es drei Österreicher. Ein bisschen Theorie und schon geht es ins Wasser. Eine Windböe -und weg ist der erste Schüler. In "Schildkröten"-Stellung wird er kurz darauf an den Strand zurückrudern. Die hatte Robert vorher noch schnell erklärt: Beine auf das Brett, Segel einklemmen und kräftig paddeln. Seit 14 Jahren steht Robert zwischen März und Oktober barfuß am Hörnumer Strand und unterrichtet. Sein jüngster Schüler war gerade fünf, sein ältester 87 Jahre - den Befähigungsnachweis, dass man selbstständig fahren kann, hatten am Ende beide in der Tasche.

Seine Schuhe lässt auch Jonas die meiste Zeit in seinem Wohnwagen liegen. Der steht bei der Schutzstation Wattenmeer am Keitumer Watt, und in das führt Jonas die Besucher. Sechs Stufen - und schon stehen sie im Unesco-Weltnaturerbe. Jonas barfuß, die Gäste (ausnahmsweise) in Gummistiefeln. Ein Kennerblick zum Boden und Jonas hat eine giftgrüne Seealge in der Hand, die er der Runde zum Verkosten reicht. Schaut aus wie ein Plastikplättchen und schmeckt vor allem salzig. Während die Touristen noch kauen, gräbt Jonas mit seiner Mistgabel den Boden um, um kurz darauf stolz ein Highlight der Wattenmeer-Tierwelt zu präsentieren - einen Regenwurm, Pardon: Wattwurm.

Deutsche Gründlichkeit

Eine Wattwanderung gehört zum Pflichtprogramm jedes Sylt-Besuchers - genauso wie ein Besuch am Strand. Egal, bei welchem Wetter. 40 Kilometer stehen zur Auswahl. Als der schönste gilt der Strand am Ellenbogen bei List, am nördlichsten Zipfel der Insel. Atemberaubend, so das einhellige Urteil. Doch um an die Strände zu kommen, muss man einen Strandübergang passieren. Spätestens hier zeigt sich die deutsche Gründlichkeit von ihrer besten Seite: Egal, wie mies das Wetter ist - um halb zehn Uhr am Vormittag rücken die Kontrolleure mit ihren Thermoskannen an, um in den darauffolgenden Stunden die Strandbesucher zu kontrollieren. Ohne Gästekarte gibt es keinen Zugang. Und die kostet: vier Euro die Tageskurkarte. Kinder unter 18 Jahren sind frei.

Schampus und Currywurst

Strandfeeling lässt sich auch in den Strandbuden erleben, von denen es viele gibt. Der Name ist nicht zwingend Programm: Restaurant trifft es in der Regel eher. Der berühmteste Vertreter ist die Kult-Strandhütte Sansibar in den Dünen von Rantum. Die SUV-Dichte auf dem Parkplatz ist beeindruckend, der Weinkeller in den Dünen mit seinen 30.000 Flaschen ebenso. Hier gibt es natürlich Champagner, Kaviar und Currywurst, Milchreis mit Kirschen - aber keine Rote Grütze. Dabei ist diese Rode Grütt ein Klassiker der Sylter Küche, besteht aus Johannisbeeren, Himbeeren, Kirschen, Grieß und Vanillepuddingpulver. Dazu Vanilleeis, Sahne oder Vanillesoße - fertig ist der Nachspeisentraum.

Auch auf der Karte der Strandoase in Westerland sucht man die Rote Grütze vergeblich. Dafür gibt es Wiener Schnitzel vom Kalb. Das überrascht nicht, schließlich ist der Chef des Hauses ein Österreicher. Seit 1992 lebt und arbeitet Udo Sonnleitner auf der Insel. "Nein, ich vermisse die Berge nicht", sagt er. Dafür gibt es geschätzte 12.000 Strandkörbe auf Sylt. Ein paar stehen oben auf der Düne bei seinem Lokal. "Ich stehe oft hier oben und denke mir: oh, wie geil", sagt der 45-Jährige.

»Ich verlasse die Insel nie mehr. Auf gar keinen Fall«

Hängengeblieben ist auch Sepp Reisenberger aus dem Salzburger Land. Vor 15 Jahren war er das erste Mal "auf Saison" auf Sylt. Seit 2016 gehört ihm das Strandbistro S-Point. "Ich verlasse die Insel nie mehr. Auf gar keinen Fall", erzählt er. "Attraktionen gibt es kaum auf der Insel. Aber dieses gezwungene Abschalten - das ist das wahre Highlight", schwärmt der 36-Jährige, der den Abend mit seinen Gästen dann aber doch ziemlich österreichisch ausklingen lässt: "Wollt's noch ein Schnapserl?"