"Viel mehr geht nicht"
Job - nonstop

Seit über einem Jahr wird über den Zwölf-Stunden-Tag geredet. Nun geht der Regierungsplan in die Zielgerade. Die Folgen sind unklar: Während sich für die einen gar nichts ändert, wird die Welt der anderen völlig auf den Kopf gestellt

von 12-Stunden-Tag - "Viel mehr geht nicht"
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Sabines Kalender ist voll: „Ich arbeite 40 Stunden in der Woche – von halb acht in der Früh an sitze ich im Büro, meist bis halb fünf Uhr am Nachmittag, freitags bis halb zwei.“ Viel Freizeit bleibe da nicht: „Oft nutze ich meine Mittagspause nicht nur, um schnell einen Happen zu essen, sondern auch, um fürs Abendessen einzukaufen.“ Das freie Wochenende ist für die 30-jährige Sachbearbeiterin unverzichtbar: „Das brauche ich dringend, um mich zu erholen.“ Und auch, um andere Erledigungen wie Fitnesscenter, Friseur oder Verwandtenbesuche unterzubringen: „Meine beste Freundin sitzt oft auch noch stundenlang mit ihrem kleinen Sohn in irgendeiner Spitalsambulanz, das kann ich mir bei mir gar nicht vorstellen.“ Ihre Woche ist vollgestopft, meint ­Sabine: „Viel mehr geht einfach nicht.“

Vollbeschäftigt

Und doch wird Sabines Arbeitsbelastung allem Anschein nach steigen. Zu ihren 40 Wochenstunden kommen ohnehin 2,8 Überstunden hinzu, die Vollzeitbeschäftigte im Schnitt jede Woche leisten. Damit liegen die Österreicher europaweit sogar an zweiter Stelle bei der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit. In Dänemark kommt man bei Vollbeschäftigung auch mit Überstunden bloß auf 38,7 Wochenstunden.

Der türkis-blauen Regierung ist das aber immer noch zu wenig. Bundeskanzler Sebastian Kurz will – wie im Regierungsprogramm festgeschrieben – so schnell wie möglich die 60-Stunden-Woche einführen (Dieser Artikel erschien vor der Vorstellung der Regierungspläne zur Arbeitszeitflexibilisierung am Donnerstagabend, Anm. der Redaktion) . Bis Ende Juni wird ein entsprechender Gesetzesentwurf vorliegen, im Herbst soll der Plan ans Parlament gehen. „Wenn alles wie geplant klappt, tritt das neue Arbeitszeitgesetz mit 1. Jänner 2019 in Kraft“, verrät ein hoher ÖVP-Politiker.

Der Unterschied zur bisherigen Regelung erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Schon bisher war es erlaubt, die tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden (48 Stunden in der Woche) auf zwölf Stunden pro Tag (60 Stunden in der Woche) auszudehnen, und zwar für insgesamt dreimal acht Wochen – also fast ein halbes Jahr. Neu ist nun, dass – bei Weiterbestehen der Normalarbeitszeit von zehn und 48 Stunden – die Arbeitszeit nun jederzeit auf zwölf Stunden ausgedehnt werden kann. Freilich nur in gegenseitigem Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie bei voller Bezahlung aller Überstundenzuschläge, wie die Koalition betont. „Mit dieser Regelung wird einer allgemeinen 60-Stunden-Woche Tür und Tor geöffnet“, befürchtet indes ein Gewerkschaftsfunktionär aus den Bundesländern. Nicht umsonst seien die Sozialpartner-Verhandlungen zu diesem Thema vor rund einem Jahr gescheitert: „Unsere Vorschläge von damals zu Planbarkeit, neuen All-in-Verträgen, Durchrechnungszeiträumen und Gleitzeit wurden sämtlich abgeschmettert. Warum soll das jetzt anders sein?“

Wie sich das neue Arbeitszeitgesetz auf das Leben des Einzelnen auswirken wird, lässt sich ohnehin schwer vorhersagen und wird stark von der Branche abhängen, in der man tätig ist, und auch vom jeweiligen Vorgesetzten.

© Arbeiterkammer Oberösterreich / OTS „Durch fehlende Überstundenabgeltung geht eine Milliarde Euro im Jahr verloren“ Johann Kalliauer Präsident Arbeiterkammer Oberösterreich

Die Neuregelung macht es etwa großen Produktionsbetrieben, die keine entsprechende Betriebsvereinbarung haben, leichter, auf Auftragsschwankungen zu reagieren und ihre Mitarbeiter bei Bedarf länger oder kürzer zu beschäftigen. Kleine Unternehmen merken dagegen vielleicht gar keinen Unterschied: „Ich habe mir mit meinen fünf Mitarbeitern schon bisher ausgemacht, wer wann länger bleibt, wenn etwas fertig werden muss“, sagt der Chef eines Handwerkbetriebes. Und in manchen Konzernen herrschte sowieso schon bisher Flexibilität. Denn wo Fachkräftemangel herrscht, wird schon jetzt viel stärker auf die Work-Life-Balance der Arbeitnehmer eingegangen als anderswo: „Wir haben Mitarbeiter aus Italien, die nur jede zweite Woche arbeiten, und Österreicher, die 48 Stunden in vier Tagen leisten“, sagt der Personalchef einer Hightech-Firma. Für andere Berufssparten wie Ärzte und Krankenpfleger, Polizei und Rettung sowie in der Gastronomie sind Zwölf-Stunden-Schichten schon jetzt gelebte Realität.

Gesetzeskonform

Zumindest einen administrativen Vorteil bieten die neuen Arbeitszeiten jedenfalls. Statt wie bisher auf gesetzeskonform ausgefüllte Stundenzettel pochen zu müssen, können die Personalabteilungen bald ruhigen Gewissens mit echten Angaben arbeiten. „Das ist eine gute Entwicklung, manche Änderungswünsche der Lohnverrechner zu unseren Stundenaufzeichnungen sind schon hart am Strafrecht vorbeigeschrammt“, sagt die Betriebsrätin eines Dienstleistungsbetriebes.

Dennoch stellen viele auch weiterhin die Freiwilligkeit der verlängerten Arbeitszeiten infrage. Und wenn Vizekanzler Heinz-Christian Strache auf Puls 4 auf die Frage einer Handelsangestellten, wie sie sich verhalten solle, wenn ihr Chef sie zwölf Stunden arbeiten lassen will, mit „Dann werden Sie dem Chef sagen: ‚Das geht bei mir nicht, ich habe Kinder zu versorgen, ich habe die Möglichkeit nicht.‘ Das wird jeder Chef akzeptieren“ antwortet, sorgt das im Publikum nicht ohne Grund für Erheiterung. „Dabei ist das gar nicht so lustig“, sagt der Betriebsrat eines großen Unternehmens: „Unsere Mitarbeiter haben wirklich Angst, dass sie künftig länger arbeiten müssen und nichts dagegen tun können, wenn sie nicht gekündigt werden wollen.“ Die Regierung will trotzdem keine Klauseln zum Schutz der Arbeitnehmer in das neue Gesetz einbauen.

Systematisch

Zudem soll, wie bisher, alles, was über 40 Stunden hinausgeht, eine Überstunde sein, die mit Zuschlägen abgegolten werden muss. Doch genau daran hapert es, sagt der Chef der Arbeiterkammer Oberösterreich, Johann Kalliauer. Laut Statistik Austria wurden im Vorjahr von 663.100 Beschäftigten insgesamt 25 Millionen Überstunden geleistet. Jede fünfte davon wurde allerdings weder in Geld noch in Zeitausgleich abgegolten. „Österreichweit verloren 120.000 Personen dadurch rund eine Milliarde Euro, pro Kopf 9.800 Euro“, sagt Kalliauer.

Die Gründe, weshalb das passiere, seien vielfältig: „Viele wagen es aus Angst um den Arbeitsplatz nicht, unbezahlte Überstunden einzufordern.“ Außerdem würden Arbeitnehmer solange vertröstet, bis Ansprüche verfallen seien, und manche Arbeitszeiten (wie Vorbereitungs- und Abschlussarbeiten außerhalb der Geschäftszeiten) würden nicht als Arbeitszeit anerkannt. „Manche Unternehmen fälschen auch systematisch Arbeitszeitaufzeichnungen oder verhindern die Aufzeichnung ,unzulässiger‘ Überstunden“, so die Wahrnehmung der Arbeiterkammer.

Die Wirtschaftskammer weist diese Vorwürfe stellvertretend für die Unternehmen zurück. Gemäß dem Leiter der WKÖ-Sozialpolitik, Martin Gleitsmann, sind laut einer Market-Umfrage 83 Prozent aller Beschäftigten davon überzeugt, dass ihre Überstunden korrekt abgerechnet werden. Aufgrund „einzelner schwarzer Schafe“ könne doch nicht „die ganze Wirtschaft verunglimpft werden“.

Kalliauer ist jedenfalls sicher, dass die Einführung des Zwölf-Stunden-Tages „negative Auswirkungen“ haben wird. „In Verbindung mit langen Durchrechnungszeiträumen stehen insgesamt gleich zwei Milliarden Euro an Überstundenzuschlägen auf dem Spiel.“

Dass Arbeitnehmervertretungen den Zwölf-Stunden-Tag ablehnen, liegt auf der Hand. Immerhin haben sie sich in den vergangenen Jahren für eine Arbeitszeitverkürzung stark gemacht. Erst vor wenigen Wochen hat die neue Präsidentin der Arbeiterkammer Österreich, Renate Anderl, eine Reduktion der kollektivvertraglich festgeschriebenen Wochenarbeitszeit von durchschnittlich 38,5 Stunden auf 35 Stunden gefordert: „Ein voller Lohnausgleich für die zweieinhalb Stunden weniger ist nicht notwendig, ein gewisser aber schon.“

Doch auch für diesen Versuch gibt es noch keine echten Vorbilder. So wurde in der schwedischen Stadt Göteborg das Projekt eines Sechs-Stunden-Tages erfolglos abgebrochen. Der 2015 mit dem Toyota-Werk und anderen Institutionen wie einem Altenheim gestartete Versuch zeigte bei unmotivierten und kränkelnden Mitarbeitern zwar Verbesserungen, wurde aber schließlich aus Kostengründen abgeblasen. Das zweijährige Projekt hatte – inklusive Lohnausgleich – 1,2 Millionen Euro gekostet und war für die Stadt Göteborg nicht länger finanzierbar.

Für Sachbearbeiterin Sabine bleibt angesichts der gesetzlich ausgeweiteten Arbeitszeit ohnehin wenig Handlungsspielraum. Ihre Kollegen und sie können nur hoffen, dass ihr Chef genauso wenig einen Zwölf-Stunden-Tag haben will wie sie.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Printausgabe 23 2018

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