"Ich habe ihn getötet
- weil ich ihn liebe"

Vom Leben desillusioniert, suchten Renate und Wilhelm gemeinsam noch einmal das Glück. Als es mit ihm zu Ende ging, zog sie die lebenserhaltenden Schläuche. So, sagt sie, sei es vereinbart gewesen. Aber -ist sie nun eine Mörderin? Eine Gratwanderung zwischen Moral und Recht.

von Sterbehilfe - "Ich habe ihn getötet
- weil ich ihn liebe" © Bild: Ricardo Herrgott/News

Renate erinnert sich, als wäre es gerade erst gestern gewesen: der verrauchte Musikclub, irgendwo in den Tiefen des 15. Bezirks. Die Wiener Formation Fisherman and Friends, die dort in jener Nacht im April 2011 aufspielte. Renate, damals 45, saß mit einer Freundin an der Bar, und die leicht abgewetterten Musikanten intonierten soeben eine Coverversion von "Have I told you lately that I love you", als sich Wilhelm aus dem hintersten Eck des Lokals in ihre Richtung aufmachte. "Es war zwar die klassische Aufrisssituation, aber er hat mich in ein sehr nettes Gespräch verwickelt, und ich habe mich in seiner Gesellschaft sofort wohlgefühlt", sagt Renate.

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Klar, der grau melierte, etwas verlegen schmunzelnde Mann aus dem Nichts, der da für Renate wie selbstverständlich einen weiteren Aperol orderte, war wesentlich älter als sie, nämlich 65, und, wie sie einräumt, "beileibe kein Adonis". Doch, dachte sie damals wie heute, was bedeutet schon der äußere Schein? Renates bisherige Beziehungen hatten sie gelehrt, dem optischen Reiz zu misstrauen. "Und Wilhelm hat mir von Anfang an das Gefühl gegeben, wirklich an mir und meinem Leben interessiert zu sein." Schon bald habe sie gespürt, der alte Knabe neben ihr am Tresen, das sei ein "Seelenverwandter".

Und das war bei Renates Männern nicht immer so. Ihre Ehe mit einem angesehenen Kinderarzt endete nach zehn Jahren in umfassender Sprachlosigkeit, in einer mehrjährigen Beziehung zu einem erfolgreichen Manager bezog sie hinter der gutbürgerlichen Fassade immer wieder heftige Prügel. Und auch Wilhelm, erzählt Renate, hatte bereits drei reichlich desillusionierende Ehen hinter sich, und von den Restaurants und Gasthäusern, die er früher einmal geführt hatte, war ihm gerade ein Würstelstand in der Leopoldstadt geblieben, den er bis zur Pension betrieb.

Nein, in der Beziehung, die sich da an diesem nächtlichen Kliff der einsamen Herzen anbahnte, war kein Platz für die ganz großen Illusionen und Schwärmereien. Wohl aber für das Ende, für den Tod, über den sich die beiden von Anfang an immer wieder austauschen. Irgendwie ergab sich das fast zwangsläufig, schließlich galt es, zwei völlig unterschiedliche Lebensgeschwindigkeiten zu synchronisieren: Renate, die Mittvierzigerin, war passionierte Taucherin und überaus unternehmungslustig. Wilhelm war bereits um zwei Jahrzehnte gesetzter, eher häuslich, nicht selten schon ziemlich schwächlich -und hatte bereits zur Zeit der ersten Treffen eine Krankenakte, so dick wie ein Telefonbuch. Schon zwei Herzinfarkte hatte er damals hinter sich und zwei Nierentransplantationen, zudem litt er an der chronischen Lungenfunktionsstörung COPD.

Und auch wenn Wilhelm an schlechten Tagen auf den Rollstuhl angewiesen war: "Wir haben im Alltag versucht, seinen Gesundheitszustand, so gut es ging, auszublenden", sagt Renate. Trotzdem sei ihm eines stets wichtig gewesen, und er habe es immer wieder - manchmal wie beiläufig, manchmal vehement und eindringlich - wiederholt: "Wenn es einmal zu Ende geht, will ich nicht sinnlos leiden." Dann, so habe er das formuliert, müsse sie "den Stecker ziehen":"Das musst du mir versprechen. Renate, versprich es!"

© Ricardo Herrgott/News ERINNERUNG AN WILHELM. Renate streichelt eine der Katzen, mit denen er kurz nach dem Kennenlernen bei ihr einzog

Justiz statt Ethik

Und Renate versprach es, versprach es mehrmals, wie sie sagt. Zeugen dafür gibt es keine und auch keine Patientenverfügung, die heute als loser Beleg für diese Gespräche herhalten könnte. Ja aber -ab wann ist das Leid denn sinnlos? Und was bedeutet das Versprechen, einen Menschen nicht sinnlos leiden zu lassen, denn in letzter Konsequenz? Die ganz großen ethischen Fragen werden derzeit nicht von interdisziplinären Ethikkommissionen durchexerziert -sondern vom Wiener Straflandesgericht. Mit Renate alleine auf der Anklagebank. "Was sie getan hat, ist Mord", sagt der Staatsanwalt trocken.

Doch zunächst waren da zwei Menschen, die beschlossen, gemeinsam noch einmal ein kleines, ein winziges Glück zu suchen: Renate und Wilhelm zogen nach dem Kennenlernen relativ rasch zusammen, lebten mit ihren drei Katzen Bauxi, Bärli und Puppe auf gerade einmal 27 Quadratmetern in Renates Wohnung in Floridsdorf. Sie nannte ihn "Willi", er nannte sie "Hasi", gerne spielten sie miteinander Mühle oder schauten die "Millionenshow". Oft gingen sie eingehakt zum Heurigen oder ins Kabarett, zum Vitasek, zum Hader, ab und zu sogar in die Oper, am liebsten in "Turandot"."Nessun dorma","Niemand schlafe", wurde zu ihrer absoluten Lieblingsarie: "Auch du, Prinzessin, schläfst nicht, in deinen kalten Räumen, blickst auf die Sterne, die flimmernd von Liebe und Hoffnung träumen."

Die Liebe wuchs, die Hoffnung schwand. "Und er hatte immer diese Angst, irgendwann einmal bewegungsunfähig ans Bett gefesselt zu sein", sagt Renate. Fast auf den Tag genau sieben Jahre nach dem Kennernlernen betritt sie am 6. April 2018 gegen 17 Uhr ein letztes Mal die Intensivstation 13, C3, Grünes Bettenhaus, im Wiener AKH, wo Wilhelm nach einem Multiorganversagen nun schon seit fünf Tagen im Koma liegt. Nur Stunden zuvor hat sie die diensthabende Ärztin darüber informiert, dass es mit ihm unaufhaltsam zu Ende gehe und dass es wohl an der Zeit sei, Abschied zu nehmen. Im Falle eines Kreislaufstillstandes, erfährt Renate von der Ärztin, würde man keine Reanimation mehr vornehmen.

Sie hält seinen Kopf

Und plötzlich geht alles ganz schnell: Gegen 17.05 Uhr ist Renate für kurze Zeit alleine an Wilhelms Bett. Um 17.10 Uhr wird im Bereitschaftszimmer des Personals Alarm ausgelöst. Als der Krankenpfleger den Intensivbereich betritt, sieht er, dass Renate noch mit der flachen linken Hand Wilhelms Kopf hält. In der anderen Hand hält sie den Dialysekatheder, der kurz zuvor noch am Hals des Patienten befestigt und angeschlossen war. Neben dem Bett liegt der Beatmungstubus, der vor ein paar Minuten noch an Wilhelms Mund festgeklebt war. Und eine Magensonde, die man ihm durch die Nase eingeführt hatte. Auch ein EKG-Kabel war gewaltsam von seiner ursprünglichen Position an Wilhelms Oberkörper entfernt worden. Renate -sie sagt kein Wort, streift mechanisch den sterilen Klinikkittel ab, fährt wie in Trance mit dem Lift ins Parterre und dann weiter nach Hause. Wie genau sie heimkommt, weiß sie nicht. Gegen 22.00 Uhr wird sie dann in ihrer Wohnung verhaftet.

"Ja, ich habe ihn getötet", sagt Renate, auch heute noch, gut eineinhalb Jahre später. "Aber ich habe ihn getötet, weil ich ihn liebe -und weil ich mein Versprechen einlösen musste." Und: "Wenn es sich noch einmal um den Willi handeln würde, dann würde ich es wieder tun." Nun steht sie wegen Mordes vor dem Wiener Straflandesgericht. "Dieser Mord ist außergewöhnlich, fast absurd", sagt der Staatsanwalt, "aber es ist trotzdem Mord." Am Mittwoch der Vorwoche begann der Prozess mit Renates Aussage, im Oktober wird er mit der Anhörung von Experten fortgesetzt.

»Sind alle treuen Partner, die so wie Renate handeln würden, potenzielle Mörder?«

Aber worüber genau sitzt man hier eigentlich zu Gericht? Renates Verteidiger, der Wiener Staranwalt Gunther Gahleithner, hatte zunächst auf Tötung auf Verlangen plädiert. Renate, sagt er, hätte doch nichts anderes gemacht, als unter extremen, fast unzumutbaren, Umständen, ihr Versprechen eingelöst. "Und ist es nicht so, dass viele treue Partner in Renates Situation genau dasselbe tun würden - nämlich die Moral über das Recht zu stellen? Sind sie denn alle potenzielle Mörder?"

© Ricardo Herrgott/News Gunther Gahleithner, Anwalt von Renate

Verkürzter Leidensprozess

Rudolf Likar, der Vorstand der Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin am Landesklinikum Klagenfurt, hat im Auftrag des Gerichts ein Gutachten verfasst: "In diesem Fall ist die Beschleunigung des Sterbeprozesses mit einem verkürzten Leidensprozess zu sehen", schreibt er. Doch das ist eine medizinische Fachmeinung, keine Rechtsexpertise. Aktive Sterbehilfe ist verboten (siehe Kasten), Gesetz ist Gesetz, und nur darum geht es jetzt. Und Tötung auf Verlangen, das setzt voraus, dass der Betroffene über das Wann, Wer, Wie und Wo dieser Tötung bestimmt.

"Wo ist denn die Würde, wenn die mit Stichen fixierten Kanülen mit Kraft aus dem Körper gerissen werden?", will die Richterin wissen. Renate weiß es nicht, senkt den Kopf, schweigt.

Was sie weiß: Am Weg ins Krankenhaus machte sie noch an einem Tankstellenshop Halt, um sich Mut anzutrinken. Dann, auf der Intensivstation, versuchte sie in ihrer Verzweiflung, den Sterbenden noch einmal wachzurütteln. "Komm zurück, ich brauche dich", flehte sie Wilhelm an, doch der blieb reglos. Und dann - was ging ihr durch den Kopf in diesen Momenten, in denen sie Wilhelm noch ein letztes Mal auf die Stirn küsste, um unmittelbar danach Tubus, Sonde und Katheder zu entfernen? "Nichts, gar nichts, da war kein Gedanke an das, was danach passieren würde."

Sie habe ganz einfach getan, was sie tun musste, sagt Renate. "Die Geschworenen können deutlich unter die Mindeststrafe gehen, etwa auch eine bedingte Strafe aussprechen", sagt der Staatsanwalt.

Mord muss Mord bleiben, befindet er - der Rest ist Verhandlungssache.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der News Printausgabe Nr. 37/19