Der Stellenwert der Diplomatie in der heutigen Zeit

Ein Gastkommentar von Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien

von Der Stellenwert der Diplomatie in der heutigen Zeit © Bild: DA/Peter Lechner

Kann ein Telefonat ein Fehler sein? Vor wenigen Tagen hat Angela Merkel mit dem belarussischen „Diktator“ Alexander Lukaschenko telefoniert, um von ihm ein Einlenken von seiner Politik der Instrumentalisierung von Flüchtlingen an der Grenze zu Polen und den baltischen Staaten zu erreichen. Von Swetlana Tichanowskaja und anderen Vertretern der demokratischen Opposition in Belarus wurde sie dafür heftig kritisiert.

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Der Vorwurf lautet, dass man mit Diktatoren nicht verhandeln soll, weil dies nur deren Position legitimiert und stärkt. Man solle als Reaktion auf die von Lukaschenko erzeugte Migrationskrise mit Geschlossenheit des Westens, mit Härte und mit weiteren Sanktionen reagieren. Schon die Frage, welche Vorgehensweise nun richtig ist, zeigt, dass in Krisensituationen Diplomatie sehr unterschiedlich gehandhabt werden kann, aber unverzichtbar ist. Das Dilemma der „richtigen“ Diplomatie gilt heute für immer mehr internationale Krisensituationen: wie viel Dialog soll zwischen demokratischen und autoritären Regimen geführt werden, wie muss der Dialog zwischen Staaten zur Erreichung der Klimaziele geführt werden, was ist die beste Form des Dialoges zwischen der absteigenden Weltmacht USA und der aufsteigenden Weltmacht China?

In der Diplomatie geht es immer darum, wie mit Fragen der „Macht“ umgegangen werden kann, ohne zu militärischen Mitteln zu greifen. In einer stabilen Weltordnung schien das Problem mit multilateraler Diplomatie lösbar, ja es schien nur eine Frage der Zeit bis universal gültige Regeln in allen Bereichen und Weltgegenden durchsetzbar sind. Mit dem regelbasierten System der Vereinten Nationen und der internationalen Wirtschafts- und Finanzinstitutionen, das nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet wurde, konnte das Gleichgewicht der Mächte lange stabil gehalten werden, selbst wenn es von vielen nicht als gerecht empfunden wurde. Aber seit dem Ende des Kalten Krieges ist dieses internationale System aus den Fugen geraten.

Die wachsende Rivalität zwischen China und den USA, die aggressive Außenpolitik Russlands und die Uneinigkeit in der Europäischen Union über gemeinsames globales Handeln schaffen eine instabile Weltordnung. In dieser Situation gibt es keine wünschenswerte Alternative zu mehr Diplomatie, selbst wenn sie scheitert, wie das Beispiel der chaotischen Machtübernahme der radikalislamischen Taliban in Kabul gezeigt hat. Immer mehr Staaten sitzen bereits wieder am diplomatischen Tisch mit den Taliban.

Derzeit wird internationale Diplomatie mit jedem Tag wichtiger und ihre Erfolge oder auch ihr Scheitern betreffen den Alltag und die Lebenschancen von fast jedem Menschen. Dies hat im Kern mit zwei scheinbar gegensätzlichen Entwicklungen zu tun. Wir alle müssen mit den Konsequenzen von Globalisierung und Identitätspolitik leben. Es ist relativ kostengünstig geworden, Menschen aus Afghanistan oder Syrien mit dem Flugzeug nach Minsk zu bringen, um sie dann als Herausforderung für die EU an die Grenze zu Polen zu verfrachten. Gleichzeitig ist es relativ leicht geworden, Ängste vor einem Verlust der eigenen kulturellen Identität zur erfolgversprechenden politischen Formel für die Errichtung von Zäunen und Mauern zu machen.

Was dennoch Mut macht, ist die Tatsache, dass wir heute viel mehr „Akteure“ in der Diplomatie haben, als dies etwa zu Zeiten des Wiener Kongresses der Fall war. Nicht nur jeder Bürgermeister, jeder Landeshauptmann und jedes Regierungsmitglied kann seine Interessen auch international vertreten, sondern auch NGOs, Unternehmen, Medien, Banken und Gerichtshöfe sind längst relevante Handelnde auf der internationalen Bühne. Die Dringlichkeit, um Klimakrisen, Pandemien und Großmachtambitionen von Populisten als globale Herausforderungen gemeinsam „einzudämmen“, ist den neuen Akteuren oft stärker bewusst als den klassischen staatlichen Diplomatien. Und zumindest für sie reichen die Instrumente und Methoden der Diplomatie heute bis weit in den Cyberspace. Aber ganz verzichten sollten wir nicht darauf, dass Merkel Lukaschenko anruft.

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