Steine, die bewegen

Steine der Erinnerung geben Wiener Jüdinnen und Juden einen Platz des Gedenkens

Howard Jaeckel hatte nicht viel mehr als ein Bild seiner Großeltern. Seine Eltern sprachen nie über ihre beiden im Holocaust ermordeten Eltern, auch nicht über ihr Leben vor dem Nazi-Horror. Selbst das war zu schmerzhaft. Hermann und Friederike Jäckel hatten im April 1939 in größter Verzweiflung ihre älteren Kinder mit einem Kindertransport ins Ausland geschickt und ihnen damit das Leben gerettet. Das war das letzte Mal, dass sie einander sahen. Das Ehepaar Jäckel wurde am 9. April 1942, mit Transport 17, vom Aspangbahnhof nach Izbica in Polen deportiert und dann im Vernichtungslager Belzec ermordet.

von Steine der Erinnerung © Bild: Rudi Froese

Seine Eltern, sagt der aus New York nach Wien angereiste Howard Jaeckel, hätten sich nie vorstellen können, dass in dieser ihrer Geburtsstadt eines Tages eine Wandtafel zur Erinnerung an sie angebracht werden würde: "Das hätte ihnen viel bedeutet, so wie es mir viel bedeutet." Er sagt das an einem regnerischen Sonntag Ende Mai, als ihn eine Gruppe Menschen auf dem "Weg der Erinnerung durch die Leopoldstadt" begleitet. Acht Stationen sind es an diesem Tag, an denen Wandtafeln an Häusern oder in den Boden eingelassene Steine an das Leben und das Schicksal der jüdischen Wienerinnen und Wiener erinnern.

Steine der Erinnerung
© Rudi Froese Viktor Wagner gedenkt seines Onkels Erich, der in Litauen sein eigenes Grab ausheben musste

Während viele Hauseigentümer ablehnen, dass Tafeln an ihren Häusern angebracht werden, war es in der Lilienbrunngasse anders. Durch "einen unglaublichen Zufall", sagt Daliah Hindler vom Verein "Steine der Erinnerung", hatten sich Howard Jaeckel und die Hauseigentümer unabhängig von einander mit dem Wunsch nach einer Wandtafel an den Verein gewandt. Die Vertreterin der Steiner Immobilien Gruppe, die auch einen finanziellen Beitrag zur Errichtung der Tafel leistete, sagt am Rande der Zeremonie: "Es war das Wenigste, was wir tun konnten. Es ist eine Ehre und eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die Geschichte, so grauenvoll sie war, zu bewahren."

Nicht alle sehen das gern

Das sehen viele andere nicht so. Oftmals haben sich Hauseigentümer mit Händen und Füßen gegen solche Erinnerungstafeln gewehrt. Und oft empfinden auch Hausbewohner die Erinnerung an die Opfer als störend. Als der Weg der Erinnerung in die Obere Donaustraße führt und Carol Antone Mutterperl aus New York vom Leben ihres Großvaters Max Frieser und von seiner Ermordung im Vernichtungslager Treblinka im Alter von 74 Jahren, vom Schicksal ihrer Großmutter Antonie und ihrer im Auschwitz ermordeten Tante Theresia erzählt, drückt eine Hausbewohnerin laut ihr Missfallen über die Störung ihres Sonntags aus. Für Max Friesers Enkelin ist die Zeremonie sehr wichtig: "Dieser Stein ist das einzige Zeichen, dass mein Großvater gelebt hat."

Steine der Erinnerung
© Rudi Froese Ein Stein für Max Frieser, der im Alter von 74 in einer Gaskammer in Treblinka ermordet wurde

Es gibt heute 400 Adressen mit Steinen oder Wandtafeln, davon die Hälfte im 2. Bezirk, die an rund 1.500 Personen erinnern. Und das kam so: Ephraim Levanon, "Onkel Fritzl", hatte sich im April 2005 an seine Nichte Elisabeth Ben David-Hindler gewandt. Er wollte am früheren Haus seiner Eltern in der Porzellangasse 49a im 9. Bezirk eine Gedenktafel anbringen. Weil die Hausbesitzerin sich dagegen wehrte, entstand die Idee eines Gedenksteines.

Das war der Anfang des Vereins. Am 12. November 2005 hielt Levanon, der mit seiner Frau, den Söhnen und sieben Enkelkindern nach Wien gereist war, bei der Feier eine Rede zum Gedenken an seine aus Wien vertriebenen und in Polen ermordeten Eltern: "Und so stehe ich heute, inmitten meiner Familie vor Ihnen, und es ist wahrscheinlich einer der glücklichsten Tage meines Lebens." Er meinte auch: "Ich glaube, wenn meine Eltern es vor ihrem Tod geahnt hätten, dass so viele Menschen kommen würden, nur für ihr Andenken, es hätte ihre schwerste Stunde erleichtert."

Steine der Erinnerung
© Rudi Froese Den Angehörigen bedeutet es viel, dass Steine oder Tafeln an ihre Lieben erinnern und dass sie dabei nicht allein sind

Das war der Beginn der "Steine der Erinnerung". Ben David-Hindler sagte rückblickend, das Gedenkprojekt sei ihr "zugefallen". Der Verein ist klein, hat aber viele Unterstützer und Unterstützerinnen gefunden. Angehörige von Opfern, die von Freunden und Bekannten oder aus Publikationen vom Verein erfahren haben, melden sich aus Israel, den USA, aus Großbritannien oder Australien und bitten um einen Stein der Erinnerung für ihre Lieben. So wie der 84-jährige Herr Feldschuh, der 2006 in einem Brief um Gedenksteine für seine Großmutter Rosa und seine Eltern bat: "Möchte nicht, dass ihr Andenken in Vergessenheit gerät, schmerzt mich allzu sehr Hoffe auf eine positive Antwort von Ihrem Verein." Die Steine wurden gesetzt. Feldschuh war schon zu schwach für die Reise. Seine Frau erzählte, dass er in der Nacht, nachdem er die Fotos der Steine gesehen hatte, "diese Welt verlassen konnte".

"Ich bin so dankbar"

Der Verein recherchiert auch selbst in verschiedenen Archiven, wer noch in den Häusern gelebt hatte, schreibt deren Verwandte an und setzt Steine für alle HausbewohnerInnen. Viele Freiwillige helfen mit, spenden, übernehmen Patenschaften, polieren die Steine regelmäßig oder melden, wenn sie unansehnlich oder beschädigt wurden. Immer nehmen einige an den "Wegen der Erinnerung" teil. Bei den Feiern singt das Ensemble Avanim (hebräisch: Steine) Lieder der Trauer und Lieder vom Leben. Eine der MusikerInnen ist Daliah Hindler, die Tochter der inzwischen verstorbenen Initiatorin.

Steine der Erinnerung
© Rudi Froese Frances Frumet Ilse Adler Zamcheck und Norman Zamcheck haben nun einen Ort der Erinnerung für Samuel und Else Adler

"Ich war 23, als mein Vater starb", erzählt Frances Frumet Ilse Adler Zamcheck (sie wurde nach ihren Angehörigen benannt), bei der Gedenksteinlegung für ihren Großvater Samuel Adler und ihre Tante Else in der Malzgasse. Ihre Eltern reisten 1973 nach Wien, um das Grab seiner Mutter Fanni zu besuchen, die noch vor der Deportation gestorben war. Tags darauf starb ihr Vater, in Wien. Jetzt ist seine Tochter mit ihrem Mann zur Gedenkfeier angereist: "Ich bin so dankbar, dass meine Kinder einen Ort der Erinnerung an ihre Familie haben. Es ist wichtig für uns zu sehen, dass die Stadt uns willkommen heißt." Ein Kreis schließt sich.

Steine der Erinnerung
© Rudi Froese Die Angehörigen schicken ihren Familien Fotos von den "Steinen der Erinnerung" in Wien