Wie man Theater
des Jahres wird

Für Theater heute qualifiziert man sich, wenn man ein Haus bis zum Ultimo leergespielt hat. Wer dagegen oder gegen die Zerstörung der Osterfestspiele etwas hat, ist ein Reaktionär

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die jährliche Kritikerumfragen des Fachperiodikums "Theater heute" würzt den Kulturherbst traditionell mit herber Kurzweil. Werden dann auch noch die Nominierungen für das im Frühjahr stattfindende Berliner Theatertreffen bekannt, so taumelt der praxisorientierte Theaterkonsument ein zweites Mal mit großen Kinderaugen ins Wunderland der Absonderlichkeiten, die ihm das Jahr über streng verschlossen bleiben. Nie gähnt der Abgrund zwischen Feuilleton und Publikum, zwischen Theorie und Praxis des Theaters ehrfurchtgebietender als im Zwielicht dieser Nominierungen. Heuer zum Beispiel wurden per Kantersieg die Münchner Kammerspiele unter Matthias Lilienthal zum Theater des Jahres gewählt. Bliebe dem Adjektiv "leergespielt" der Superlativ nicht aus linguistischen Gründen versagt, hier wäre er verdient. Weil sich das Publikum in Stampeden verabschiedet hat, folgt ihm nächstes Jahr unfreiwillig auch der Intendant. Die Kammerspiele haben sich als Vatikan des postdramatischen Theaters etabliert. Hier wird nicht literarische Sprache in Geschichten, Emotion und Schauspielkunst verwandelt, hier wird dekonstruiert und Diskurs geführt, wozu der große Castorf Legionen an Imitatoren zum Schaden des Theaters ermächtigt hat.

Mittlerweile hat sich - nur der "Theater heute"-Jury ist es entgangen - der Trend schon wieder gewendet. Plötzlich kommt einem das Burgtheater in der neuen Direktion wie der Brennpunkt der Avantgarde vor. In den (bis Redaktionsschluss vier) Einstandspremieren wurde wie ums Leben Theater gespielt. Man sah richtige Stücke und keine tranchierten Romane. Mikroports, diese zähen Feinde der Schauspielkunst, gelangten nur einmal zum Einsatz, und da mit Grund, weil sie Teil der Handschrift des bedeutenden Theatermannes Ulrich Rasche sind. Selbst Sally Potters Familiengroteske "The Party" geriet am großen Haus einigermaßen. Zwar hat die tendenziell übellaunige Regisseurin Anne Lenk nicht in der Witzkiste genächtigt. Aber mit Dörte Lyssewski, Peter Simonischek, Markus Hering und Regina Fritsch an der Spitze eines Ensembles der Virtuosen ist das Faktum "Regie" plötzlich nicht mehr so wichtig. Und da der unabhängigen Jury des Theatertreffens eine fünfzigprozentige Frauenquote vorgeschrieben ist (welcher Widersinn, welche Entwertung der nominierten Regisseurinnen!), hat der Abend womöglich noch ungeahnte Aufstiegschancen.

Lilienthal gab sich übrigens als Opfer nicht seines Scheiterns, sondern der reaktionären Kulturpolitik zu erkennen. Womit wir bei der zweiten Jahresumfrage sind, jener der Zeitschrift "Opernwelt". Ihre Resultate sind etwas realitätsnäher, aber nicht viel. Schon die Dirigentin des Jahres, Joanna Mallwitz aus Nürnberg, lässt aufhorchen, hat sie sich doch gegen "renommierte Kollegen wie Kirill Petrenko und Christian Thielemann" durchgesetzt. Nun mag Frau Mallwitz für Nürnberg Sensationelles vorgelegt haben, die Sensation hat sich allerdings noch nicht bis in die große Musikwelt durchgesetzt. Ein Ärgernis des Jahres gibt es auch: Daniel Barenboim wurde als Musikchef der Berliner Staatsoper verlängert. Wie belieben? Der Identitätsstifter des Hauses, einer der letzten großen Dirigenten? Ja, aber er soll eine frühere Orchestermanagerin "angeschrien und an den Schultern" gerüttelt haben. Bliebe zu ermitteln, wer die an der Umfrage Beteiligten wo und wie fest gerüttelt hat. Ja, und Thielemann? Wer, meinen Sie, sind die viel zahlenden Besucher und nicht zahlenden Kritiker, die sich über seine schandbare Vertreibung von den Salzburger Osterfestspielen empören? Die Reaktionäre sind es. Das lässt uns Klaus Bachler wissen, der Urheber des sich anbahnenden Debakels. Wenn er die Osterfestspiele bis zum Zusperren dekonstruiert hat, bekommt er bestimmt einen Preis.

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