Wenn alle wollen, ist die Zentralmatura tot

Mit einer ehrlich errungenen Jahresabschlussnote kann man noch vor der debilen Zentralmatura das Ziel der achtjährigen Mühe erreichen. Bildung statt bürokratischer Niedertracht: Das ist vordringlicher als Digitalstunden

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Um in dieser Seepockenzeit eine optimistische Kolumne vom Stapel zu lassen, muss man entweder ein begnadeter Navigator oder erster Maat auf der Titanic sein. Oder es gibt tatsächlich etwas zu begrüßen. Lassen Sie es mich versuchen und dabei auf eines meiner Herzensthemen referieren.

Die Zentralmatura im Fach Mathematik ist, ersten Erhebungen zufolge, annehmbar verlaufen, 78 Prozent der Befragten sehen ihr persönliches Resultat im mindestens "eher guten" Segment. Was die Deutsch-Matura betrifft, so ist der Schwachsinn der "Textsorten" wenigstens im mikroskopischen Literaturteil durch die Wahl zweier schöner Frühlingsgedichte von Brecht und Marie Luise Kaschnitz gemildert (Lesen Sie "Über das Frühjahr" und "Juni" nach, es lohnt sich)! Wobei sich freilich auch Brechts "Flüchtlingsgespräche" aufgedrängt hätten. Die dürften allerdings wegen des Titels nicht mehr opportun sein, seit flügelschlagende Analphabeten per Über-Nacht-Eingebung verfügt haben, dass "Flüchtling" eine Beleidigung ist wie zuvor schon "Zigeuner". Und Brecht mit dem Qualpartizip "Geflüchtetengespräche" zu behelligen, ginge mir doch zu weit.

Die mehrheitliche Zufriedenheit der Betroffenen dürfte indes weniger mit dem Detail als mit jener Entwicklung zu tun haben, für die ich dem Corona-Virus nicht genug danken kann. Ob der Fahrradbote mit dem Blumenstrauß, den ich im Frühjahr 2020 nach Wuhan geschickt habe, dort schon eingetroffen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls hat meine ältere Tochter damals die Matura mit lauter Einsern und einem Vierer bestanden. Letztgenannter wurde ihr, Sie haben es erraten, in Mathematik zuteil und wäre am Ende nicht so gut unterfüttert gewesen, hätte Minister Faßmann nicht die gleichberechtigte Einrechnung der Jahresabschlussnote ins Gesamtresultat verfügt. Ein solider Zweier auf die letzte Schularbeit, der wir unsere gesamte Obacht zukommen ließen, und die Klausur war Formsache: Das miese, hinterhältige Fragenkonstrukt, mit dem sich die beamteten Giftzwerge, meist abgeworfene Pädagogen, an der übernächsten Generation schadlos halten wollten, hatte sich in Luft aufgelöst.

Gegen diese für die Aufgabenstellung zuständige Kommission hatte es der erstklassige Minister Faßmann noch schwerer als gegen das Kabinett halbgebildeter Buben, gegen das er sich ständig zur Wehr setzen musste. Zwei Mal hat er sie ausgetauscht, dann ging ihm das Personal aus. Er hatte zuvor vergebens faire Fragenstellung angeordnet, und er wusste, wovon er sprach. Denn in seinem Auftrag war der ehemalige Stadtschulratspräsident Kurt Scholz, ein bedeutender Pädagoge, einen Sommer lang durch die Bundesländer gereist, um sich bei den Betroffenen aller Seiten kundig zu machen.

Scholz war übrigens schon auf dem Weg, um auch der verheerenden Abschaffung des Literaturunterrichts zugunsten von Leserbriefen und "Meinungsreden" zu begegnen. Da musste Faßmann leider Präsident der Akademie der Wissenschaften werden. Wohingegen sich der Nachfolger bisher maximal für die zweite Führungsebene bei der Friseur-Innung empfohlen hat.

Aber dass, einige qualitätssichernde Maßnahmen vorbehalten, die Jahresabschlussnote dauerhaft gleichen Rang wie die der Klausurarbeit einnimmt: Das öffnet die von den Dunkelministerinnen Claudia Schmied und Gabriele Heinisch-Hosek vermauerten Bildungsräume, lässt Licht und Luft in den Gehirnkerker der Zentralmatura. Acht Jahre lang mussten Pädagogen diesem Popanz ihr besseres Wissen opfern. Statt auf Goethe, Brecht und Handke richtete man die Obacht auf Bewerbungsschreiben und die Analyse von "Falter"-Artikeln. Wenn sich jetzt alle zum kollektiven Ungehorsam verständigten, den Stumpfsinn als bürokratische Formalie vernachlässigten und wieder durchnähmen, was den Menschen zum Menschen macht! Im Maturajahr sollte es einem klugen Pädagogen ein Leichtes sein, schon vor der Klausur für jeden, der es verdient, entspannte Verhältnisse herzustellen. Dann kann wieder jeder dort gefördert werden, wo er vielleicht alle anderen überragt, statt sich dort, wohin er im Leben nicht will, zum knappen Vierer zu martern. Noch deutlicher formuliert: Wenn wir es wollen, ist die Zentralmatura auch ohne Gesetzesänderung ein mumifizierter Nebbich. Pfeifen wir auf den Mist!

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