Vorauseilend fassungslos: die österreichische Realität

Der bedeutende Filmregisseur Ulrich Seidl wird anonym beschuldigt, bei Dreharbeiten in Rumänien Kinderrechte missachtet zu haben. Es gibt keine belastbaren oder gar belastenden Fakten, allfällige Ermittlungen haben noch gar nicht begonnen. Aber die Politik setzt sich vorsorglich ab

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Der bedeutende österreichische Filmregisseur Ulrich Seidl ist in Bedrängnis. Die kanadische Premiere seines in Rumänien gedrehten Films "Sparta" wurde abgesagt, Kunst-Staatssekretärin Andrea Mayer ist "fassungslos" und stellt vorsorglich die Rückforderung von 1,3 Millionen durch das Österreichische Filminstitut in Aussicht. Sollten die erhobenen Vorwürfe zutreffen.

Ja, sollten. Vorläufig gibt es allerdings ausnahmslos anonyme Beschuldigungen aus Rumänien, die im "Spiegel" erhoben und von Seidl und seinen Mitarbeitern unter Androhung gerichtlicher Maßnahmen zurückgewiesen werden. Selbst die anonymen Beschuldigungen sind zu diffus, um sie zu bewerten. Laiendarsteller zwischen neun und 16 Jahren hätten sich auf dem rumänischen Set "unwohl" gefühlt. Sie seien "mit Gewalt und Nacktheit konfrontiert" worden, und man habe über den Gegenstand des Films - nämlich Pädophilie - weder die Eltern in Kenntnis gesetzt noch deren Anwesenheit am Drehort geduldet.

Aus der Sicht des Filmteams liest sich das freilich konträr: Jeder sei über das Thema aufgeklärt worden, man habe im Wesentlichen Fußballspiele abgelichtet, und kein Kind sei annähernd mit Sexualität und Gewalt in Berührung gekommen. Wofür auch mehrere Vertrauenspersonen, unter ihnen zwei anwesende Pädagoginnen, garantiert hätten.

Kein Missverständnis darf hier aufkommen. Sollte während der Dreharbeiten auch nur ein Kind mit auch nur anzweifelbaren Absichten auch nur seltsam angeschaut worden sein, und das von auch nur einer Person: so wäre diese Person drastisch zu belangen. Allerdings werden Sie mir gestatten, dass ich daran zweifle. Seidl ist ein Regisseur des sozialen Mitleids, der sich sein Königreich im Niemandsland zwischen Dokumentation und Fiktion gebaut hat. Österreich ist mit einer dichten Population erstklassiger Filmregisseure gesegnet, aber Seidl verfügt über mehr als eine Handschrift - er hat etwas Neues, Unverwechselbares geschaffen. Seine Zuwendung gilt den Abgeworfenen, den Sonderbaren und Zurückgelassenen. Die Pädophilie als Resultat eines mörderischen Nord-Süd-Gefälles ist, klar, sein Thema. Dass sich der Vater zweier Kinder dabei mit eigennützigen Absichten Neun- bis Sechzehnjähriger bedienen könnte, schließe ich beinahe aus.

Noch weit dezidierter schließe ich allerdings aus, dass vorauseilende Fassungslosigkeit und vorsorglich angedrohter Entzug von Fördermitteln zur Stellenbeschreibung eines österreichischen Kulturpolitikers gehören. Eindeutig hingegen ressortiert dort die Verpflichtung, sich bis zum Vorliegen belastbarer, wenn nicht gar belastender Fakten hinter einen bedeutenden, anonym beschuldigten österreichischen Kulturschaffenden zu stellen. Es ist ja auch schon vorgekommen, dass solche Beschuldigungen auf Hoffnungen finanzieller Art beruhten (auch hier gilt die Unschuldsvermutung, mittlerweile die Karikatur ihrer selbst).

Ich erinnere mich an einen komplett anders gelagerten, weil mit schweren und gerichtlich judizierten Verfehlungen verbundenen Fall: Am 11. Februar 1998 trat auf Einladung Claus Peymanns der Künstler Otto Mühl im Burgtheater auf. An der Performance beteiligten sich namhafte Kollegen, unter ihnen Peter Turrini. Und das, obwohl Mühl gerade eine Gefängnisstrafe verbüßt hatte: Ihm waren, Jahre zuvor, die Verhältnisse in der von ihm begründeten Kommune Friedrichshof bis ins Diktatorische, Menschenzerstörende entgleist. Nicht zum ersten Mal hatte sich da ein der Gleichheit und Gerechtigkeit verschriebenes Gesellschaftsmodell zur Fratze seiner selbst pervertiert.

Aber Mühl hatte nicht nur seine Strafe abgesessen, er war in erster Linie ein bedeutender, kulturhistorisch einflussreicher Künstler, nicht der erste straffällige der Geschichte. Ich weiß noch, dass dem Kanzler Viktor Klima und seinem Kultur-Staatssekretär Peter Wittmann, beide für das Burgtheater zuständig, der Schweiß auf der Stirn stand. Aber der Kanzler wehrte parlamentarische Anfragen unter Verweis auf die Freiheit der Kunst und ihrer Institutionen ab.

Waren das Zeiten, als die Kunstfeinde noch von blauen Hinterbänken agierten. Als sich Kulturpolitiker und -journalisten noch zur Kultur bekannten. Statt mit Denunziationslisten gegen unwirsch amtierende Regisseure, russische Dirigenten und Verbalrassisten wie Shakespeare und Astrid Lindgren ihre Gehälter zu veruntreuen.

Waren das Zeiten.

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