Von umwegrentablen Zweitnobelpreisen

Erinnern Sie sich an Olga Tokarczuk? Vermutlich. Weil sie 2019 das politisch korrekte Gegenstück zum Nobelpreisträger Peter Handke war. Was ihr bis heute eine Art Weiterwirken garantiert

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Das Datum - den 10. Dezember 2019 - muss man nachschlagen. Aber die Bilder von der Verleihung der beiden Literaturnobelpreise samt folgendem Bankett im Stockholmer Konzerthaus sind haften geblieben. Unten, im Katzensegment der Festtafel, saßen diejenigen, die etwas vorzuweisen hatten. Umzwitschert von der "Gattin des Schweizer Ministers für Wirtschaft, Bildung und Forschung" dinierten da der Medizinnobelpreisträger des Jahres 1982, Bengt Samuelsson, und der Laureat des Jahres 2019, Peter Handke, den nicht nur Josef Winkler den bedeutendsten lebenden Schriftsteller Europas nennt. Zu Häupten der Tafel thronten die Tagediebe und hatten die Preisträgerin des Jahres 2018, die literarisch unauffällige polnische Erzählerin Olga Tokarczuk, in die Mitte genommen: zu ihrer Rechten "König Carl XVI. Gustaf", zu ihrer Linken ein Prinz Daniel, vis-à-vis die Königin.

Schon die Ereignisse vor der und um die Zeremonie hätten sich nicht bizarrer gestalten können: Wegen angeblicher #Metoo-Verfehlungen des Gatten einer Nobelpreisjurorin (!) hatte sich das überforderte Gremium im Tumult aufgelöst und die Entscheidung über das Jahr 2018 den Nachfolgern überlassen. Deshalb wurden mit der Zeremonie des Jahres 2019 zwei Literaturnobelpreise vergeben, der aktuelle und der nachgereichte. Die neuen Juroren hatten sich Unerhörtes vorgenommen: Erstmals seit weiß Gott wie langer Zeit sollte den vom Stifter vorgegebenen strengen Qualitätskriterien entsprochen werden!

Mehr hatten sie nicht gebraucht: Literaturkritische Autoritäten wie Recep Tayyib Erdogan sowie praktisch jedes Frankfurter Würstel resp. Zürcher Geschnetzelte aus dem Feuilleton ereiferten sich monatelang über den Laureaten Handke. Der sich - heute wieder ein ächtungswürdiges Offizialdelikt - am Unfehlbarkeitsdogma der Nato im Jugoslawienkrieg vergangen hatte.

»Der Lohn des Ruhms: ein langatmiger Tierschutzkrimi für die Wiener Festwochen«

Die erwartbaren martialischen Konsequenzen wollte das Komitee, offenbar vor seiner eigenen Courage schaudernd, mit einer Zweitentscheidung für das politisch korrekte Mittelmaß abfedern: Olga Tokarczuk, Jahrgang 1961, ist Frau und Feministin und hat das polnische Schurkenregime zumindest am Trikot gezupft (eine beherztere Attacke hätte kein noch so gewogener Schiedsrichter feststellen können). Die Staatsspitze hatte ihr trotzdem säuerlich zum Nobelpreis gratuliert (während Jörg Haider anno 2004 zumindest den Charakter hatte, der von ihm über Jahre bepöbelten Elfriede Jelinek den Glückwunsch zu verweigern).

Weshalb ich Ihnen das erzähle? Weil Olga Tokarczuk, die sich sonst ohne Verzug bei den zahllosen vergessenen Literaturnobelpreisträgern
eingereiht hätte, quasi umwegrentabel vom Handke-Tumult profitiert. Richtig, das war ja die andere, die neben dem König! Und so ist ihr Werk zuletzt auch im Theater aufgetaucht. Erst kürzlich entnahm man am Burgtheater dem Erzählband "Unrast" zwei fiktive - literarisch unerhebliche, historisch abstruse - Briefe der Tochter des schwarzen Hofbeamten Angelo Soliman, um daraus ein Stück zu stricken. Das Resultat will sich niemand ansehen. Nun war der kauzige britische Theatermagier Simon Mc-Burney nicht zum ersten Mal Gast der Wiener Festwochen. Nabokov und Stefan Zweig hatte er schon mit Erfolg in seine text- und atmosphäresicheren Märchen aus Wort, Bild und Pantomime verwandelt. Jetzt nahm er sich Olga Tokarczuks nobelpreisrelevanten Roman "Gesang der Fledermäuse" vor und scheiterte hart. Der so langatmige wie vorhersehbare Tierschutzkrimi voll ökologischer, feministischer, gar astrologischer Plattitüden reichte gerade zum illustrierten Hörbuch in quälender Überlänge. Auch (so fair muss man sein), weil sich Tokarczuks Qualitäten, das bilderstarke Erzählen und der freche Sarkasmus, nicht dramatisieren lassen.

Wieder zeigt sich, dass man in der Zweitliga weniger vom Nobelpreis selbst als von seinen Abstrusitäten profitiert. 1926 zum Beispiel war kein Geringerer als Karl Kraus nominiert, aber das Komitee konnte auf der Liste niemanden Geeigneten ausmachen und vergab den Preis nicht. Um ihn mit einem Jahr Verzögerung dann doch einer gewissen Grazia Deledda auszuhändigen, die heute als Versteinerung auf den Geröllhalden süditalienischen Sozialkitschs lagert. Aber hie und da taucht sie in Philologenkreisen auf: Das ist doch die eine, die mit dem Kraus! Analogien versage ich mir streng.

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