Unheimliche Begegnung mit der Realität

Das wunderschöne eröffnende Festwochenprojekt "Close Encounters" ist dafür verantwortlich, dass ich den Lehrling Alex kennenlernen durfte. Er hat mich mehr beeindruckt als ich ihn

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Alex, den jeder so nennt, wurde eigentlich auf den Namen Aleksandar getauft. So vermute ich wenigstens, denn zum Austausch privater Vertraulichkeiten blieb uns während der 35 Minuten unserer Begegnung wenig Zeit. Wir hatten sozusagen übergeordnete Probleme zu erörtern. Ich weiß also nicht verbindlich, ob Alex tatsächlich auf Aleksandar, ja: ob er überhaupt getauft wurde. Aber ein paar Lebenseckdaten konnte ich erfragen. Alex ist 16, vor zehn Jahren mit den Eltern aus Bosnien zugewandert und macht die dreijährige Ausbildung bei Spar. Sein Deutsch ist geläufig, idiomatisch kaum einen Hauch gefärbt. Und er hat sich, wie mindestens noch ein weiterer Spar-Lehrling (sein Kumpel vermutlich), für Anna Rispolis Festwochenprojekt "Close Encounters" gemeldet. Deshalb haben wir einander am vergangenen Samstag im Parlament kennengelernt.

Ich musste, nach allerlei Sicherheitskontrollen, mit weiteren 29 Besuchern im Foyer vor dem Sitzungssaal warten, bis die 30 Protagonisten auf uns zueilten und jeder einen von uns an der Hand nahm. Wenig später saß ich allein mit Alex in einer kahlen Besprechungskammer, er hat sich und mir Kopfhörer aufgesetzt, und den Dialog, der uns auf diesem Weg souffliert wurde, haben wir nachgesprochen. Die 30 Jugendlichen hatten ihn mit der italienischen Projektkünstlerin aus 30 Stunden Gesprächsmaterial gefiltert. Was sie ihr erzählt haben, wurde gemeinsam zu zwei Lebensentwürfen verdichtet. Alex hat den Text des Burschen gesprochen, und endlos weit von einander entfernt werden die beiden nicht gewesen sein: die Eltern Gastarbeiter, die sich für die nächste Generation halbtot geschuftet haben. Der Sohn, getrieben von der Angst, sie zu enttäuschen, will nur schnell zu Familie und Wohlstand, Modell S-Klasse, gelangen.

»Ein Text wie von Horváth: Schablonen verwandeln sich in höhere Wahrheiten«

Der Part des Besuchers, der meine also, war der weitaus vertracktere: Ich war die einsame Gymnasiastin Gott weiß welchen Hintergrunds, hatte mich nach lebensbedrohenden Pubertätskrisen gefangen, die Fresssucht bezwungen und das Gift, das ich mir bis an die Grenze zum Exitus eingefüllt hatte, nicht mehr angerührt. Nach der Matura, so habe ich Alex erzählt, wolle ich Psychologin werden. Alex, respektive seine Rolle, hat mir verständnislos zugehört: seine Zeit versitzen, bis man 30 und alt ist und das Leben versäumt hat? Der Text, der unter Anna Rispolis Anleitung entstand, ist purer Horváth: Sprachschablonen erblühen in zarter Poesie, Banalitäten verwandeln sich in höhere Wahrheiten "Die Kinder", sagt er, "werden alles von mir bekommen." - "Gib ihnen Liebe", schlägt sie vor. Und er: "Die hab ich nie gekriegt."

"Close Encounters of the Third Kind" ist der Originaltitel von Spielbergs Science-Fiction-Klassiker "Unheimliche (wörtlich: enge) Begegnungen der dritten Art". Eng war die Begegnung mit Alex in jedem Fall. Und unheimlich? Erst recht. Wollte ich ihm doch nach verrichtetem Werk gönnerhaft eröffnen, dass er unsere halbe Stunde in News und der "Krone" nachlesen könne, sogar mit seinem vollen Namen, wenn er es wolle. Ich erwartete, er werde vor Aufregung gleich umfallen, aber der helle, beredsame, mimisch nicht unbegabte Bursche fragte mich nur: "Und was machst du so?" - "Kritiker", antwortete ich, eine Idee verunsichert. "Theaterkritiker. Journalist." Er sah mich abwartend an, wollte etwas fragen und unterließ es. "Ich schreib über euer Projekt", holte ich, schon etwas verzagt, nochmals aus. "Im News und in der 'Kronenzeitung'." Da fragte er: "Ist das Internet?"

Das war sie, die unheimliche Begegnung mit der Realität: Wie es scheint, hat unsereins eine halbe Generation junger, wacher, zur Gestaltung ihres Lebens entschlossener Menschen glatt verloren. Schuldzuweisungen an uns selbst bzw. an das Unbildungssystem in den Schulen müssen anderswo erhoben werden, dafür ist hier und jetzt kein Platz mehr. Aber Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welcher Leidenschaft ich nachher im Foyer der Gesangsgruppe aus Waidhofen gelauscht habe. Die nicht mehr blutjungen Damen und Herrn hatten sich für die Parlamentsführung mit einem Volkslied bedankt, einige winkten zu mir herüber, und eine Dame wollte ein Selfie mit mir! Gleich ging es mir wieder gut. Wenn ich mich da nur nicht getäuscht habe.

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