Die Theaterkrise und das "N-Wort" in der Luxusvilla

Weshalb strömen die Menschen wieder in die Oper, aber nicht mehr ins Theater? In diesem Magazin sind zuletzt Repräsentanten aller Altersgruppen und Stilrichtungen zu immer dem gleichen Resultat gelangt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Dass ich es nicht versucht hätte, wird mir keiner vorwerfen können. Ich habe vielmehr gefragt und gefragt: den 92-jährigen Otto Schenk, den 76-jährigen Peter Simonischek und den 27-jährigen Felix Kammerer, der im Gefolge der Oscar-Nacht auch fernen Ethnien ein Begriff sein dürfte; die bis auf den Beistrich werktreue Regisseurin Andrea Breth und ihre Kollegen Barrie Kosky und Herbert Fritsch (s. Seite 68), der mit Castorf und Schlingensief das Theater in Stücke geschlagen hat. Die Frage war immer dieselbe: Weshalb kommen die Leute nicht ins Theater zurück? Wo doch in der Oper zumindest für das publikumsgängige Repertoire die Karten schon wieder knapp werden? Liegt es nur an den Touristen?

Nein, sagt Kosky, der einst als Intendant des Wiener Schauspielhauses die Avantgarde auf dem Siedepunkt gehalten und der Staatsoper soeben einen vom Unfug erlösten, feinmechanisch auf die Personen gearbeiteten "Figaro" gefertigt hat. Vielmehr habe das deutschsprachige Theater unter dem Schirm staatlicher Durchfinanzierung die Beziehungen zum Publikum abgebrochen. Während in der Oper die Autorität der Partitur das Gröbste verhindere. Oder Herbert Fritsch, der gerade Raimunds "Gefesselte Phantasie" am Burgtheater in die anarchischen Höhen entfesselter Spielwut befördert: "Ich will mir nicht anmaßen, Leute zu belehren, wenn sie ins Theater gehen. Theater ist keine Schule, kein Krankenhaus und keine Kirche. Sondern ein Ort der Lust."

Andrea Breth? "Ich verstehe die Leute auf der Bühne nicht, dieses Gebrüll, und dass man sich weigert, die Stücke zu erzählen!" Otto Schenk? "Wenn etwas unspielbar wird, wird es den verdienten Tod erfahren." Peter Simonischek? "Es ginge darum, Theater zu machen, das für das Publikum ist. Einen Klassiker, wo drin ist, was draufsteht." Und geradezu empört wies Felix Kammerer die Unterstellung zurück, eine ganze Generation beherrsche das Handwerk des Verwandelns und Verzauberns nicht mehr: In nichts sei er an der Berliner Ernst-Busch-Schule schärfer eingewiesen worden als in Präsenz, Sprache und Stille. "Das andere" komme erst mit der Theaterpraxis. Soll heißen: die durch Gesichtsmikrofone gebrüllten pädagogischen Wikipedia-Plattitüden zur Klimakrise, die Video-Besäufnisse, die ewigen "Überschreibungen".

Das gibt einem dem Teenager-Alter entwachsenen Kritiker, der bis heute begierig nach dem Neuen und Blickverändernden sucht, schon zu denken. Wie groß war die Empörung, als Claus Peymann den "Ton" am Burgtheater radikalreformiert hat! Shakespeare und Schiller klangen da, als habe der Schauspieler die komplizierten Versgebilde im Augenblick des Sprechens erfunden. Alles war heutig und drängend, aber Peymann hätte sich, wiewohl kein Niederösterreicher, lieber die Hand abgehackt, als ein Wort zu verändern. Er war versessen auf das Wort und seine Schöpfer. Verbürgt ist, wie er mit einem verzweifelten Ensemble zwei Tage lang einen unverständlichen Satz aus Jelineks "Raststätte" probte. Bis ein Schauspieler bei der Autorin anrief und das Problem daraufhin als Resultat eines Tippfehlers benennen konnte. Konträr Peter Zadek, der klassische Texte zum Explodieren bringen konnte, ohne ein Wort zu verändern.

Auf der anderen Seite schrieben sich die Gründerväter der Dekonstruktion, Neuenfels, Schleef, Castorf, Gosch, in die Geschichte ein. Aber was sie nach sich gezogen haben! In ihrem Namen hat sich eine Population dreister Mechanikerlehrlinge an die Macht gebastelt, und wahrhaftig: Sie konnten sich mit Kulturpolitikern, Intendanten und Feuilletonisten vor den Stürmen der krisendurchtobten Zeit in einer beheizten Blase einrichten. Das dort festgelegte Stildiktat hat freilich den Nachteil, dass es zwar intern unter Androhung der Ächtung lückenlos exekutiert wird. Dass es aber außerhalb - dort, wo das Publikum logiert - niemanden interessiert. "Die Dekonstruktion", sagt Peter Simonischek, "ist ein kühnes Unterfangen, wenn man nicht kapiert, wie sie geht."

Und erst das leidige "Überschreiben" klassischer Texte! Selbst ein Hochbegabter wie der Regisseur Simon Stone ist im Vergleich mit Euripides und Tschechow ein ambitionierter Gymnasiast, wenn er "Medea" und "Drei Schwestern" ins Souterrain "woker" Banalitäten aus dem Bobo-Milieu verfrachtet, ohne dafür ein Wort des Originals zu verwenden. Stone lamentiert übrigens per "Profil"-Titel, wie ihm und seiner Gemahlin kürzlich die Welt zusammengebrochen ist. Wie das? Weil in einer Luxusvilla auf Ibiza ein befreundeter (alter, weißer) Architekt das "N-Wort" gebraucht hat! Hat man dieses Glanzstück boboistischer Weltflucht in Zeiten von Krieg und Massenverarmung gelesen, versteht man, weshalb kein Mensch mehr ins Theater gehen will.

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