Das Theater
überlebt alles. Hoffentlich

Wie geht es der Kulturpolitik? Im Bund gibt es gerade keine -hier hat noch Thomas Drozda die Burg besetzt. Die Stadt gab soeben Kay Voges als Volkstheaterdirektor bekannt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Der 6. Juni war ein merkwürdiger und ja, ein zufriedenstellender Donnerstag. Früh um 10 Uhr 30 rezitierten auf der Bühne des Burgtheaters dessen designierter Direktor Martin Kušej und seine Dramaturgen mit verteilten Rollen unsere "Spitzentöne" vom 19. April. Wir hatten da in umfangreichen Fragmenten Kušejs Premieren für den kommenden Herbst recherchiert. Nun war Spielplanpressekonferenz, und alles hatte so weit gestimmt. Stunden später wurden meine Kollegen und ich von einer Eilt-Meldung der Wiener Kulturstadträtin überrascht: Der neue Volkstheaterdirektor werde am nächsten Vormittag präsentiert. Das hatte mit sich steigernden Einwänden und Protesten gegen den Dreiervorschlag zu tun, der am 31. Mai via News bekannt geworden war. Die Politik hätte ihn mit Grund lieber geheim gehalten, der Name des Erwählten ließ es dann vollends geraten sein, ohne Verzug Tatsachen zu schaffen. Was tun in solch einem Fall, wenn das Blatt schon gedruckt ist? Man beschafft sich den Namen, und wahrhaftig: Was die APA wenig später unter Berufung auf news.at verbreitete, war laut "Standard"-Diagnose "am Donnerstagabend Gesprächsthema Nummer eins in der Kulturbranche". Während der Pressekonferenz gerieten Kollegen mit der Stadträtin ins Hadern, wie sich denn die Personalie via Newsleaks vor der Zeit habe verbreiten können. Und all das mit einem Thema, das selbst in unserer kleinen Branche nicht zu den ganz oben Gereihten zählt. So etwas freut einen, warum es leugnen?

Kommen wir nach diesen verwerflich selbstgefälligen Einblicken in die Wunderlichkeiten des Berufs nunmehr zum Ernsthaften. Und um gleich jedes Missverständnis auszuräumen: Der im Herbst 2020 sein Amt antretende Volkstheaterdirektor Kay Voges hat meine uneingeschränkte und leidenschaftliche Unterstützung (es sei denn, er beabsichtige die Beschädigung des Unternehmens, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder vorausgesetzt noch ausgeschlossen werden kann). Was bleibt mir auch anderes übrig, so verliebt, wie ich in dieses Theater meiner Kindheit bin? Das Volkstheater befindet sich mit seinen vorjährigen 52 Prozent Auslastung in existenzbedrohenden Umständen, und die Situation hat sich im Lichte der neuen Personalie nicht entspannt. Kay Voges, geboren 1972 in Düsseldorf, ist fraglos ein interessanter Theatermann. Er hat es 2017 mit der Produktion "Die Borderline Prozession -Ein Loop um das, was uns trennt" zum Berliner Theatertreffen geschafft (und das ungeachtet eines fehlenden Bindestrichs, "Deppenleerzeichen" genannt, im Titel). Vom aktuellen Dienstort Dortmund zum Berliner Ensemble hat er ein Glasfaserkabel gelegt und will nun auch das Volkstheater zum "Ort der digitalen Moderne", zur "Factory", ja zum "fortschrittlichsten Theater Wiens" umbauen. Ich las auch, "die Kritikerzeitschrift ,Theater heute'" habe das Haus in Dortmund "drei Mal in Folge zum zweitbesten Theater des Sprachraums" gewählt. Das ist zwar noch etwas besser, als wenn es zwei Mal in Folge zum drittbesten Theater gewählt worden wäre. Wenn jetzt nur nicht das Volkstheater zum erstbesten deutschen Stadttheater wird: Denn dass das noch nicht geflohene Restpublikum das fortschrittlichste der Stadt wäre, würden ihm selbst Sympathisanten nicht unterstellen. Und dass sich künftig die Jugendlichen aus den Flächenbezirken von ihren Smartphones trennen werden, um sich im Volkstheater das Nämliche in der Gestalt der digitalen Moderne hineinzuziehen: Das walte der Herr, ich glaube es nicht.

Besondere Angst macht die Bereitschaftsbekundung, die Außenbezirke-Tournee des Hauses politisch aufzuladen: Mit eben diesem Konzept hat Voges-Vorgängerin Anna Badora das dankbare Publikum, das unkomplizierte Klassiker-Inszenierungen in vertrauter Besetzung sehen wollte, bis unter die Wahrnehmungsgrenze vertrieben. Dazu kommen die dürren Dortmunder Zahlen: Das Haus umfasst 500 bis 600 Plätze, und Voges konnte dort zuletzt 60.000 Besucher im Jahr willkommen heißen. Das ist etwas mehr als die Hälfte der Zuschauer, die das 800 Plätze fassende Volkstheater im Jahr der schlimmsten Krise seines Bestehens mobilisiert hat. Wie man damit in Dortmund zu den gemeldeten 80 Prozent Auslastung gelangt sein mag, überfordert meine mathematische Unterbegabung. Doch gibt mir ein Interview des Berliner Regisseurs Ersan Mondtag - auch er stand auf dem Dreiervorschlag für das Volkstheater -zu denken. Auf die Frage, ob zu einer von ihm in Dortmund gefertigten Inszenierung tatsächlich "kaum noch Zuschauer gekommen" seien, antwortete er: "Zu vielen Stücken anderer Regisseure kommen auch keine Zuschauer. Wo kommen wir hin, wenn wir Inszenierungen absetzen, weil die Zuschauerzahlen niedrig sind? Wenn man Auslastung haben will, setzt man Justin Bieber auf den Spielplan oder lädt Helene Fischer in die Volksbühne." Das lässt befürchten, dass demnächst Gabalier schuld sein wird, wenn ins Volkstheater noch weniger Leute kommen.

Alle diese Bedenken sind nicht nur die meinen: Erstmals hat sich die kompetente und durchsetzungsfähige Stadträtin mit der Personalie branchenweite Unfreundlichkeiten eingehandelt, und das selbst in Freundmedien wie dem "Standard". Und wie die Ernennung zustande kam! Ein halbes Jahr lang hatte sich die Findungskommission gequält. Deren namhaftes Mitglied, die scheidende Burgtheaterdirektorin Karin Bergmann, hatte via News unmissverständlich den Weg vorgezeichnet: Das Haus brauche keine Anbindung an die deutsche Bundesliga, sondern österreichische Identität mit den bestverfügbaren österreichischen Schauspielern. Und in der Tat bestünden intakte Chancen, mit Andrea Eckert, Maria Bill, Michael Schottenberg, Paulus Manker, Maria Happel oder Gregor Bloéb Publikum zurückzuholen. Die drei Letztgenannten hatten sich sogar beworben. Doch die Stadträtin, die zuvor mehrfach versichert hatte, der Kommission folgen zu wollen, ließ plötzlich verlauten, sie wolle nun doch allein entscheiden: Zweieinhalb Wochen vor der Bekanntgabe jettete sie in Panik nach Dortmund, da sich keine geeigneten Kandidaten gefunden hätten. Als vertrauensbildende Maßnahme in Richtung der eigenen Klientel ist das zumindest übertrefflich: Neben den genannten Spitzenschauspielern haben auch zahlreiche qualifizierte (wenn auch nicht vorrangig der digitalen Moderne verschriebene) Theaterdirektoren ihre Bewerbungen eingebracht. Wobei die Auswahl von der freien Szene über den "Rabenhof"-Prinzipal Thomas Gratzer bis zu gestandenen Landestheater-Profis reichte. Sie dürfen sich jetzt pauschal als unterqualifiziert betrachten. Zumal Voges das Volkstheater zum Zeitpunkt der Bekanntgabe erst ein Mal betreten und in Wien noch nie gearbeitet hat.

Ohne nun die Stadträtin persönlich zu meinen: Die Entscheidung spiegelt präzise die Befindlichkeit einer winzigen, letztlich irrelevanten Feuilleton-und Dramaturgenblase. Die hypnotisierte Anpassung an deutsche Stadttheaterverhältnisse ist kein Ausdruck von Weltläufigkeit, sondern provinziell und parvenuhaft. Notabene: Speziell das Berliner Theatertreffen hat seine letzte Relevanz eingebüßt, seit -ein Widersinn -der unabhängigen Jury eine fünfzigprozentige Regisseurinnenquote vorgeschrieben wurde.

Dankbar hat man immerhin zur Kenntnis genommen, dass das Ensemble vergrößert werden soll, und in der Tat finden sich im Volkstheater nebst faden auch einige äußerst spannende Schauspieler (ich werde mich hüten, ihnen zu schaden, indem ich sie nenne). Doch versichert Voges, dafür auf Gäste verzichten und auf preisgünstige junge Kräfte zurückgreifen zu wollen. Das mindert die Freude ungemein: Schon Anna Badora ist krachend daran gescheitert, dass sie die Mechanismen der Schauspielerstadt Wien nicht verstanden hat. Folgerichtig wurden in der Mehrzahl der Bewerbungen eben jene großen Namen genannt, die ich zuvor schon aufgezählt habe. Aber an denen jetzt die digitale Aufrüstung glatt vorbeiläuft.

Sonderbare Parallelität der Fälle: Selbst der noch von Thomas Drozda eingesetzte Burgtheaterdirektor, ein bedeutender österreichischer Regisseur mit regionaler Szenekenntnis, scheint die Bedeutung des Schauspielers für die Wiener Theaterbefindlichkeit zu unterschätzen. Wie sonst wäre sein Erstaunen zu erklären, als er auf der Pressekonferenz nach den Besetzungen seiner Premieren gefragt wurde? Oder sind ihm detaillierte Einblicke gar nicht willkommen? Da wurde (mit Recht und auch an dieser Stelle) ein Jahr lang über die nicht verlängerten Verträge von 19 Ensemblemitgliedern lamentiert. Das wahre Ausmaß der Abgänge offenbarte sich allerdings erst nach und nach, zuletzt angesichts der Programmpressekonferenz: Nicht nur Petra Morzé und ein paar fähige Junge sind weg. Auch Joachim Meyerhoff verabschiedet sich nach Berlin (seine Kinder übersiedeln samt ihrer gekündigten Mutter, der Schauspielerin Christiane von Poelnitz, ins erreichbarere Hamburg). Und Nicholas Ofczarek nimmt zwei Jahre Karenz, womit die beiden sichersten Publikumsbringer nur ihre alten Vorstellungen zu Ende spielen. Sven-Eric Bechtolf, Corinna Kirchhoff, Johanna Wokalek verabschieden sich, Udo Samel wurde nicht zurückgebeten.

Dazu kommt nun noch eine Anzahl von Pensionierungen, von denen man nichts wusste. Der vergleichslose Peter Matic, das kultische Original Hermann Scheidleder, Gertraud Jesserer und Rudolf Melichar, die noch einen Schimmer vergangener österreichischer Theatermagie zu mobilisieren verstanden: Wie will man am Haus künftig Nestroy, Horvath und Schnitzler besetzen, die jetzt schon enorme Mühe bereiten? Da trifft es sich gut, dass in Kušejs erster Saison die Österreicher quasi abgemeldet sind. Zwar holt er seine vorzügliche Akademietheater-Inszenierung von Schönherrs "Weibsteufel" zurück (mit den Neuzugängen Birgit Minichmayr und Tobias Moretti, die in Wahrheit das Haus nie verlassen haben) und hält damit bei sechs eigenen Inszenierungen. Zwar wechselt, eine Freude, Florian Teichtmeister endgültig ans Haus. Doch steht, ein interessantes Exil-Projekt um die Wienerin Maria Lazar ausgenommen, just Franzobel als einziger österreichischer Autor seit Walther von der Vogelweide im Premierenangebot. Und das nach Karin Bergmanns furiosem Abschied mit Wolfgang Bauer, Werner Schwab, Ewald Palmetshofer und Ferdinand Schmalz! Aber Kušejs Programm ist auch farbig und attraktiv und couragierte Europäisierung immer noch besser als Kleinstadtteutonisierung. Zumal man abwarten muss, ehe man verurteilt. Ich selbst zum Beispiel habe dem Programm des im Vorjahr notgeborenen Festwochen-Intendanten Christophe Slagmuylder insgeheim wenig Chancen gegeben. Zu ähnlich schien es mir den Kreationen seines krachend gescheiterten Vorgängers Tomas Zierhofer-Kin. Was ich nicht bedacht hatte, war der enorme Unterschied an Professionalität und Qualität. Also reiste das Publikum plötzlich in Scharen nach Kagran und Favoriten. Wollen wir in diesem Sinn hoffen, dass sich auch Tausende und Abertausende am Voges'schen Glasfaserkabel ins Volkstheater heimhangeln.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz@news.at

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