"Aber tausend Väter sind die deinen"

Die Juden sind wieder umzingelt, Nazi-Unrat schmückt sich mit dem gelben Stern, aber der neue Antisemitismus kommt auch von links. Statt eines Kommentars: ein großartiges Gedicht von Friedrich Torberg

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Weil unsereiner ja nicht jünger wird, maximal in die Pubertät zurückreift, zieht es mich auf meinen sonntäglichen Spaziergängen immer öfter an die Orte der Kindheit. Bevorzugt zum Wasagymnasium, der "Judenschule", in der Karl Landsteiner, Stefan Zweig und Erich Fried zu qualifizierten Menschen wurden, ehe sie sich, teils um ihr Leben rennend, in eine bessere Welt verloren. Seit dem vergangenen November gehe ich dann weiter zur Mauer mit den Namen der 64.000 ermordeten österreichischen Juden vor der Nationalbank. Einige meines Namens stehen da, aber die sind maximal ferne Verwandte. Die meinen müssen irgendwo in Polen verweht und vergessen sein, ohne dass ich auch nur ihre Namen wüsste. Von einer überlebenden Tante Grete war da in meiner Kindheit flüsternd die Rede. Über so etwas sprach man nicht, und ohnehin war der Eiserne Vorhang zwischen uns.

Was ich noch vor zehn Jahren ausschließen zu können meinte, ist jetzt Wirklichkeit: Rechter Unrat randaliert mit gelben Sternen und findet seine etwas glimpflichere Entsprechung in grünen Impfpsychopathen, die meinen, sich auf dem Vergleichsweg an den Opfern des Faschismus vergehen zu müssen. Der von mir einst verehrte Roger Waters, Proponent der gegen Israel als Staat agitierenden BDS-Bewegung, feuerte während seiner Konzerte unter dem Vorwand, Palästinenser zu verteidigen, auf ein mit dem Zionsstern bemaltes Plastikschwein. Ein linkes Verständnisraunen für immigrierten Judenhass ist nicht zu überhören. Und Extinction Rebellion, eine im Namen des Klimaschutzes marodierende Gruppe von Hooligans, ließ über ihren Gründer wissen, die Shoa sei nur eine Episode gewesen. Die Juden sind wieder umzingelt, diesmal "divers", multiethnisch, von links und rechts.

Weil im Wasagymnasium auch Friedrich Torberg zwei Jahre hingebracht hat, überlasse ich ihm, dem in der Shoa die Familie umgebracht wurde, heute meinen Kolumnenplatz für ein überwältigendes, in der Emigration geschriebenes Gedicht (Gedicht: Das ist das, was man früher in der Schule gelernt hat, statt die Zeit des Reifens mit Leitartikeln und Bewerbungsschreiben veruntreuen zu müssen).

FRIEDRICH TORBERG

Kaddisch 1943

1943 begann in den Vernichtungslagern des Naziregimes das Massenmorden an den europäischen Juden; bei den Trauergottesdiensten, die damals in den jüdischen Gemeinden Amerikas stattfanden, wurde auch die "Kaddisch" geheißene Totenklage angestimmt.

Denkst du noch dein erstes Kaddisch-Beten,
noch den ersten Gram, der dich gewürgt,
da du stumm ins Kerzenlicht getreten
vor den Schrein, der Gottes Bücher birgt?

Aber heute vor den gleichen Kerzen,
aber heute vor dem gleichen Schrein -
Bruder mit dem gleichen Gram im Herzen,
Bruder, heute bist du nicht allein.

Trieb es dich, den Vater zu beweinen?
Stehst du um der Mutter willen hier?
Aber tausend Väter sind die deinen.
Aber tausend Mütter starben dir.

Bruder, hunderttausend sind erschlagen,
und die Erde wurde ihnen schwer,
und da ist kein Sohn zum Kaddisch-Sagen,
und da brennt kein Licht zur Jahrzeit mehr.

Die auf keinen frommen Gottesackern,
die an keinen guten Orten ruhn -
Bruder, ihre toten Augen flackern
dir zur Mahnung, dir zum Bußetun.

Wisse dich in ihren toten Händen,
wisse dich in ihrem Untergang,
und von ihnen nimm, dich zu vollenden,
Bruder, neu dein Leben in Empfang!

Wenn du zu den blau und purpurfarben
Heiligen Rollen jetzt dein Antlitz hebst -
wisse, dass du lebst, weil jene starben,
und dass jene starben, weil du lebst.

Dieser Kaddisch, der dir heut geboten -
wisse es: ruft dich zu Gericht,
und du bist gefordert vor der Toten
ungeheuer fragendes Gesicht.

Bruder, um die kahlen Kerzenflammen
sieh die abgeschiednen Schatten wehn!
Gottes Donner trieb sie hier zusammen,
Gottes Blitz hat dich zum Ziel ersehn.

Der du jetzt dich neigst vor diesen Stufen -
brenne, Bruder, brenne lichterloh!
Höre, Israel! Du bist gerufen!
Jisgadál wejiskadásch scheméh rabbó.

Die hebräische Schlusszeile leitet das Kaddisch-Gebet ein und heißt übersetzt: "Erhoben und geheiliget werde der Name des Herrn."

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte:
sichrovsky.heinz@news.at