Allmählich werde ich ungehalten, und ich vertraue Ihnen das nicht etwa aus Überschätzung meiner Befindlichkeiten an. Sondern weil ich pars pro toto für viele zürne, die mich zu beherzterem Einspruch auffordern. Gegenstand ihres und meines Missvergnügens sind die jüngsten Ereignisse um Anna Netrebko, die zwischen sich und die anderen aktiven Sopranistinnen nach wie vor einen geräumigen Respektabstand zu legen vermag. In Wien sang sie zuletzt konzertant eine akklamierte "Traviata". Dagegen demonstrierten vor dem Konzerthaus ein paar Leute, die man (es sei denn, sie belästigen Künstler, Besucher oder Passanten) als Sympathisant der Grundrechte gewähren lassen muss.
Und das trotz aller Hirn-Insuffizienz des Vorgangs: Hat die führende Opernkünstlerin unserer Zeit nicht soeben deutliche Distanz zu Putin artikuliert? Nicht, dass ich das besonders begrüße: Den Scheinheiligen, die aus der sicheren Distanz des Westens Betroffene bedrängen, sich und ihre russischen Angehörigen in Gefahr zu bringen, räumt man besser keinen Fußbreit einer Legitimation ein. Aber geschehen ist es, und wenn es für nichts anderes gut war, als dass die Intendanz der Metropolitan Opera die von Anna Netrebko angestrengte Klage wegen Vertragsbruchs und Verleumdung hoffentlich krachend verliert. 332.000 Euro scheinen mir eine unstatthaft milde Buße für den nicht mehr satisfaktionsfähigen Peter Gelb, der bei Ausbruch der Pandemie Orchester und Chor seines Hauses auf die Straße getreten hat.
Überdies birst der Netrebko'sche Terminkalender vor Auftritten an den reputierlichsten Schauplätzen der Welt. Aber eine bestimmte Entwicklung gibt mir zu denken. Ein gewisser Pospisil, Vizebürgermeister von Prag, hat beim ukrainischen Botschafter vorfühlen lassen, ob ein für 16. Oktober veranschlagtes Konzert der Diva in seiner Stadt opportun sei. Als er negativ beschieden wurde, hat man das Konzert abgesagt. Das Bubenstück wollte in diesen Tagen der ukrainische Botschafter in Berlin wiederholen: Er forderte die Intendanz der dortigen Staatsoper auf, Verdis "Macbeth" umzubesetzen. Bürgermeister Kai Wegener schloss sich dem Begehren an, und Kultursenator Joe Chialo, vormals Mitglied der "Nürnberger Band Blue Manner Haze" sowie Inhaber einer zwischenzeitlich deaktivierten "Stimme (...) zwischen einschmeichelndem Soul, harten Raps und Hardcore-Geschrei", hat den Auftritt gar boykottiert! Wie Verdis Oper in Abwesenheit einer solchen Kapazität überhaupt alle vier Akte durchdienen konnte, bleibt ein Rätsel. Und dass beide Politiker der CDU angehören, versetzt mich in zarte Desperation: Da dachte man, die Hauptstadtschwarzen wären, wenn schon für sonst nichts, so doch wenigstens als kompakte Pfosten gegen den "woken" Schwachsinn verwendbar. Und jetzt das, wobei man andererseits beiden nur ein endloses politisches Leben wünschen kann: Wie man hört, sperren sie sich gegen das Engagement Christian Thielemanns als Musikchef der Berliner Staatsoper. Womit den größten Dirigenten unserer Zeit nichts mehr von seinen Wiener Opernplänen abhielte, so ungern sich der überzeugte Potsdamer auch Richtung Flughafen bemüht. "Frau ohne Schatten" und "Lohengrin" in dieser, "Palestrina" und "Arabella" in der nächsten Saison: Da gönnt man den Berlinern gern eine der jetzt im Überfluss verfügbaren Dirigentinnen, idealerweise mit mindestens einem ukrainischen Großelternteil.
Womit ich mich wieder an den Beginn meiner Ausführungen zurückgewürfelt habe. Was der Irre vom Roten Platz der ukrainischen Bevölkerung angedeihen lässt, ist zumindest in jüngerer Zeit ohne Beispiel und rechtfertigt alle humanitären Maßnahmen, die man den Bedrängten an ihren Exilorten angedeihen lässt. Aber dass Repräsentanten welchen Staates auch immer in ihren Gastländern die diplomatische Contenance vergessen, ist nicht hinzunehmen. Als der ukrainische Botschafter in Berlin zu Kriegsausbruch den Bundespräsidenten Steinmeier und den Kanzler Scholz beflegelte,weil sie nicht gleich mit dem schweren Gerät herausrücken wollten: Da (und nicht Monate später) hätte er einer neuen beruflichen Herausforderung zwangsempfohlen werden müssen. Wenn sich nun ukrainische Diplomaten an den Spielplänen von Konzerthallen und Opernhäusern vergreifen, sind sie so scharf zurechtzuweisen wie Politiker, die in diese Anmaßung befürwortend einstimmen. Nicht zu reden von den Vorgängen um Christian Wehrschütz, einen der angesehensten Kriegsberichterstatter Europas: Einem Journalisten wegen inopportuner Berichterstattung das Visum verweigern zu wollen, verweist auf Systeme, gegen deren Zwangsimplantierung sich die Ukraine derzeit tapfer zur Wehr setzt.
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