Salzburger Bilanz und noch ein Kosmos

So schmal wie im Jubiläumsjahr war der Rückblick auf die Salzburger Festspiele noch nie: weil sie selbst das Ereignis waren. Und versäumen Sie nicht Mankers Karl Kraus in der Remise!

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Seit Bestehen dieses Periodikums blicke ich um diese Zeit auf die Salzburger Festspiele zurück. Anfangs, der smarte belgische Tsunami Gerard Mortier fuhr den Karajan-Verwesern gerade mit maximalem Unterhaltungswert in die Parade, reichte für die Bilanz oft nicht einmal ein Dreiseiter. Später, im ausgedehnten Jammertal der Verlegenheits- und Interimsdirektionen, wurde es schwer, auch nur eine Seite zu füllen. Dann kam Markus Hinterhäuser, und das Maßgeblichkeitsaufkommen belebte sich. Und heuer? Ist dieser Rückblick so schmal wie nie in diesen 28 Jahren. Warum? Weil er so reich ist, wie man es trotz des üppig geplanten Jubiläumsprogramms noch vor einem Dreivierteljahr nicht einmal in theoretische Erwägungen gezogen hätte.

Das Ereignis der Festspiele? Waren die Festspiele selbst, die stattfanden, als anderswo in leeren Kulissen die Seevögel nisteten. Helga Rabl-Stadler und Markus Hinterhäuser waren das Königspaar der Festspiele, in deren schmaler Makellosigkeit sich der Gründungsgedanke auf seine Essenz konzentrierte. Helden des Sommers: die Wiener Philharmoniker, die unter Welser-Möst (formidable "Elektra"!) und Thielemann herrlich in Riesenbesetzungen spielten und damit den Beweis erbrachten, dass Disziplin und ein striktes Sicherheitskonzept verlässlicher vor Infektionen schützen als Hysterie und Kleinmut. Als kollektiver Gesangssolist des Sommers ist das junge, auratische, traumhaft singende und spielende "Così fan tutte"-Ensemble auszuzeichnen, nicht ohne besonders auf die Sopranistin Elsa Dreisig zu verweisen. Diese aus der Not geborene Aufführung unter dem Regisseur Christof Loy ist auch die Produktion -und Joana Mallwitz die Dirigentenpersönlichkeit des Sommers. Und dass in freilich bescheiden inspirierter Regie das weltliterarische Ereignis einer Handke-Uraufführung möglich wurde, verdient zumindest den Spezialpreis.

Kaum von den kurzen Premierentagen in Salzburg zurück, durfte ich mich davon überzeugen, dass sechseinhalb Stunden Welttheater auf einer Baustelle so rasch verfliegen können wie zwei Stunden "Così fan tutte", gekürzt und ohne Pause im Großen Festspielhaus. Unbeeindruckt vom pandemischen Kleinmut baut Paulus Manker wieder an seinem Karl-Kraus-Kosmos. Die alte Remise der Badner Bahn in Wien-Meidling ist wesentlich enger als die Serbenhalle in Wiener Neustadt, in der Manker das Wahnsinnsprojekt vor drei Jahren begonnen hat. Auch kann das Universum der "Letzten Tage der Menschheit" vom Publikum nicht mehr frei durchwandert werden, womit ein Atout des Manker'schen Stationentheaters wegfällt. Und doch fehlt nichts, weil ein großartiges zwanzigköpfiges Ensemble selbstaufopfernd über seine Grenzen geht. Die Gage - Manker, der selbst draufzahlt, hat es nie bestritten - ist miserabel und die Beschwer unter Masken unmenschlich. Aber hier wird mit Fortüne an einem vom "Spiegel" und der "Zeit" bewunderten Stück Aufführungsgeschichte gearbeitet.

Einer ist übrigens während der Proben ausgestiegen, was sein Recht ist, und hat sich über die Gründe sechsseitig ausgelassen, was er besser unterlassen hätte. Denn schreckensvoll kristallisiert sich aus dem Lamento das Antlitz des österreichischen Denunzianten, den Nikolaus Habjan zur Figur des Berti Blockwardt verdichtet hat. Manker hat während der Proben einmal die Maskenverordnung verletzt? Hat die Schauspieler angestiftet, auf einem Bauplatz Müll abzuladen? Hat sich während der Proben ungestüm verhalten und unanständige Worte geschrien?

Welch fundamentales Missverstehen nicht nur des Schauspielerberufs, sondern der Kunst an sich! Die kann nur im Hochrisikobereich atmen, in der Harmonie des Mittelmaßes erstickt sie. Wer es friedlich will, dem steht - kein Einzelfall in der Branche, wie man hört - der Karrieresprung in die Yogapädagogik offen.

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