Expeditionen zu
den Menschheitsmythen

Die erste Premierenrunde der Salzburger Festspiele ist absolviert. Teodor Currentzis und Peter Sellars zeigen, was sie können. Im Theater sieht man Großartiges.

von / Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

JUGEND OHNE GOTT

Die Pflicht zum Widerstand

Ein Jahr noch hatte Ödön von Horváth zu leben, als er 1937 den Roman "Jugend ohne Gott" schrieb, und das Vermächtniswerk hat sich mit ungeheurem Nachdruck in das Menschheitsgewissen eingeschrieben. Als Horváth im Pariser Exil von einem stürzenden Ast erschlagen wurde, waren in Österreich schon die Nazis an der Macht. Horváths Frage brennt heute allerdings wieder zum Himmel: Gibt es eine Verpflichtung zum Widerstand? Horváth erzählt die Geschichte eines Lehrers, der eine Entscheidung zu treffen hat: Soll er seine Schüler gegen die Giftinfusionen des Verbrecherregimes immunisieren? Da gerät er in einen Kriminalfall, der ihn an die Grenze der eigenen Existenz bringt. Thomas Ostermeier, Regie führender Intendant der koproduzierenden Berliner Schaubühne, denkt nicht daran, das auf der flachen Hand Liegende zu tun und die Geschehnisse in die Gegenwart zu verlegen. Horváths Werk rechnet sich selbst hoch, und was Ostermeier und sein sensationelles Ensemble zeigen, ist ein Beispiel inspirierten Bühnenhandwerks. Um Jörg Hartmann, der ereignishaft vom Zauderer zum Schmerzensmann wächst, verkörpern sieben Schauspieler 40 Rollen. Sie sind dabei derart meisterhaft geführt, dass sie gleitend die Identitäten wechseln und doch differenzierte, scharf konturierte Gestalten auf die Bühne bringen. In Jan Pappelbaums undurchdringlichem Jungwald ereignen sich zweieinhalb Stunden Welttheater.

IDOMENEO

Mahnende Rituale

Möglich, dass die nicht wenigen Skeptiker recht haben: Das Ereignis des Mozart 'schen "Titus", mit dem der Dirigent Teodor Currentzis und der Regisseur Peter Sellars vor drei Jahren in Salzburg triumphiert haben, wiederholt sich nicht ganz. Aber wer will in der Kunst schon Wiederholung? Dass Currentzis und Sellars wieder Passagen aus anderen Werken Mozarts in die Partitur collagiert haben, ist diesfalls logischer als im Fall des "Titus": Mozarts frühes Bühnenwerk kommt noch aus der barocken Tradition, in der solche Eingriffe keine Seltenheit waren. Problematisch hingegen ist das Ansinnen, die Secco-Rezitative zu streichen: In ihnen vollzieht sich ja die Handlung, während die Arien und Duette Momentaufnahmen der Seelenbefindlichkeit wiedergeben. So wird das Resultat nicht etwa spannender und kompakter, sondern tendenziell verwirrend. Welche Gewalt in den Rezitativen verborgen ist, hat Harnoncourt gelehrt, und auch Currentzis entfesselt just in den Restbeständen die höchste Intensität. Dabei geht er die Ouvertüre erstaunlich gelassen an. Vielleicht auch, weil das fabelhafte Freiburger Barockorchester dem Dirigenten nicht so hypnotisiert folgt wie seine Truppe aus Perm, setzt sich Currentzis' Besessenheit mit Verzögerung, dann aber ereignishaft durch. Gesungen wird vor allem von den Sopranistinnen Ying Fang und Nicole Chevalier sehr gut. Russell Thomas plagt sich mit Idomeneos Piani, Paula Murrihy ist ein schwacher Idamante. Und Sellars? Wunderbar, wie er die archetypischen Mythen mit den Ängsten von heute parallel führt: eine fremde, unterdrückte Minderheit, das wütende Meer, das als Kloake missbraucht wurde, die Mahnung der Jungen an die versagenden Alten - das könnte man penetrant aktualisieren. Aber Sellars versteht es, zu verrätseln. Bei ihm werden keine Cola-Flaschen, sondern Requisiten aus zeitlos verstörenden Ritualen angeschwemmt, und die verzweifelte Liebesgeschichte wird so zart erzählt, dass man den Atem anhält.

MÉDÉE

Tragödie an der Tankstelle

Der Italiener Lugi Cherubini starb 51 Jahre nach Mozart, doch die hier "Médée" genannte "Medea" ließe stilistisch eher vermuten, sie wäre 51 Jahre vor Mozarts Geburt entstanden. Dabei ist es ohne Belang, ob die italienische oder (wie hier) die französische Fassung gespielt wird. Vorzuziehen hingegen sind die in Salzburg gewählten Rezitative den papierenen Dialog-Brücken nach Corneille. "Médée" wäre versunken, hätte nicht Maria Callas in den Fünfzigerjahren die archetypische Figur für sich entdeckt. Seither ist "Médée" Primadonnenfutter -reifere Musikfreunde erinnern sich an eine Premiere der Wiener Staatsoper mit Leonie Rysanek in der Ausstattung von Arik Brauer. Mit derlei Ereignishaftem können die Salzburger Festspiele in keiner Formation dienen. Elena Stikhina, Einspringerin für die renommiertere Sonya Yoncheva, die sich schwangerschaftsbedingt dem Menschheitsmythos vom Kindermord nicht aussetzen wollte, ist eine sichere, intensive, gut gestaltende Medea. Mehr aber nicht, und doch ist sie das Beste des Abends, an dem nur noch die Mezzosopranistin Alisa Kolosova Festspielformat verkörpert. Pavel Cernoch ein engstimmiger Jason, Rosa Feola eine Dircé mit Höhenproblemen. Die Wiener Philharmoniker und der Dirigent Thomas Hengelbrock verkörpern Seriosität, Kompetenz und Klangschönheit, allerdings auch beträchtliche Langeweile. Um diese Partitur vom Fleck zu bekommen, wäre ein Originalklinger mit einer Truppe von Desperados gefragt. Und schließlich der Regisseur Simon Stone, der seinem Prinzip folgt, Mythen ohne den Umweg der Verrätselung in die Gegenwart zu transferieren. Diesfalls unter Salzburger Snobs, die einer Flüchtlingsfrau übel mitspielen. Wie immer erzeugt Stone, ein Könner der Personenführung, starke Szenen: Medeas Abschied von den Kindern an einer gottverlassenen Autobusstation, der Kindermord an einer nächtlichen Tankstelle: Das hat beträchtlichen Sog. Doch Stone überfrachtet, lässt die Musik nicht in Ruhe: Die an sich schon etwas flache Anlage wird durch Daueraktion, grauenvolle Mailbox-Prosa und bühnenfüllende Schwarz-Weiß-Filme noch weiter banalisiert. So schlecht, dass das sein müsste, ist nicht einmal Cherubinis Musik.

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