Wer nach Quoten ehrt, demütigt den Geehrten

Ein Nachschlag zur bizarren Oscar-Nacht: Diversität hat mit Kunst nichts zu tun

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Lassen Sie mich das Folgende mit Behutsamkeit einleiten, weil mir nichts widerwärtiger ist, als Menschen auf Grund ihrer persönlichen Dispositionen geringer als andere zu schätzen. Deshalb halte ich hier ohne jegliche Grundierung fest: Ich bin sicher, dass jeder, der in diesem Jahr einen Oscar entgegengenommen hat, ein hervorragender Schauspieler ist. Das Problem ist, dass viele andere daran zweifeln. Und ob am 27. März tatsächlich der jeweils Beste seiner Kategorie ausgezeichnet wurde: Das kann ich, kein wahrnehmbarer Nutzer der Kinematographie, weder beurteilen noch mit Zuversicht vermuten, seit die albernen Diversitätsverordnungen schon die Golden Globes totgefahren haben, weil man sich dort den kunstfernen Quotendiktaten allzu zögerlich unterworfen hat. Was nun die Oscars betrifft, so habe ich das Fortschreiten der Zeremonie bloß über den (in B-Zug-Englisch so benannten) "Live-Ticker" bzw. über die ebensolchen "Breaking News" wahrgenommen. Die erste aufflammende (die Förderkursabbrecher hätten "aufpoppende" geschrieben) Nachricht betraf die Kategorie "beste Nebendarstellerin". Gewonnen hat verdient Ariana DeBose aus Spielbergs "West Side Story", aber die Geehrte selbst verortete den Haupterfolg bei dem Umstand, dass nie zuvor "eine offen lesbische Afro-Latina" den Preis für sich beanspruchen habe können. Bester Nebendarsteller wurde der gehörlose Schauspieler Troy Kotsur (wer hat eigentlich wann und mit welcher Legitimation vereinbart, dass "taub" per Anordnung quasi über Nacht als Beleidigung zu qualifizieren ist?). Die beste Regie verantwortete eine Frau, nämlich die tatsächlich herausragende Jane Campion. Wie Jessica Chastain, weiß, amerikanisch, verheiratet seit 2017 mit einem Italiener, an den Oscar für die beste Hauptdarstellerin gelangen durfte, bleibt rätselhaft.

Und dann pöbelte der Moderator Chris Rock, ein Prolet, die Frau des verdienten Hauptpreisgewinners Will Smith an und wurde von ihm vor den Augen der nachvollziehbar gelichteten Fernsehteilnehmerschaft auf offener Szene geohrfeigt. Dazu muss man wissen, was mein unsterblicher Freund Manfred Deix, der heute als Korrektheitsdelinquent schon strafentmannt wäre, mit allen alphabetisierten Kabarettisten gemeinsam hatte: Nie, so sagte er mir, würde er einen Behinderten karikieren. Der darf zwar heute nur noch als "Person mit besonderen Bedürfnissen" verhöhnt werden. Aber dass der Prolet Chris Rock die an Haarausfall leidende Frau des Preisträgers belästigt hat, wurde ihm nicht weiter nachgetragen und bringt, in seine Proleten-Show eingearbeitet, Publikum. Smith hingegen, den man gern unter Mitnahme Genagelter für einen Gesäßtritt auf die Bühne begleitet hätte, wäre fast verhaftet worden. Er verließ unter Verzweiflungsbekundungen die Oscar-Akademie, die sich vor der Shitstorm-Diktatur hinter Regelwerken bar jeden Verstandes einbetoniert hat.

»Bald wird man als Maßnahme gegen Diskriminierung die sexuelle Präferenz ankreuzen müssen«

Das eigentliche Unheil habe ich allerdings noch gar nicht beim Namen genannt: Beide Kontrahenten sind schwarz, und die Freude weißer Kretins über die scheinbare Einlösung ihrer Stereotype ist enorm. Insgesamt ist der Oscar zur Karikatur verkommen. Abgesehen davon, dass einer wie Rock auf dem Podium nichts verloren gehabt hätte: Wer nach Quoten ehrt, demütigt den Geehrten und verzwergt seine Leistung. Bald wird man beim Vorsprechen für einen Film als Maßnahme gegen Diskriminierung seine sexuellen und anderweitigen Präferenzen ankreuzen müssen. Auf diese Weise haben zuletzt auch andere Auszeichnungen die Relevanz verloren. So ist die Jury des Berliner Theatertreffens verpflichtet, bei der Würdigung der besten Aufführungen der Saison eine Regisseurinnenquote von 50 Prozent zu beachten. Unvorstellbar, dass sich große Theaterkritiker wie Benjamin Henrichs oder Gerhard Stadelmaier solchem Blödsinn unterworfen hätten. Das Problem ist, dass es den Großkritiker, der bewundert und gefürchtet seine Kreise um die Theaterwelt zog, nicht mehr gibt, weil die Kulturberichterstattung mit ihrem Gegenstand dem Aussterben preisgegeben ist. So verbleiben, Ausnahmen mögen sich selbst als solche identifizieren, in der Jury Personen mit Freizeit, denen die kostenlosen Aufenthalte an den Wallfahrtsorten der Postdramatik womöglich das Monatsbudget retten. Überfliegen Sie die heuer Eingeladenen, so werden Sie mich verstehen.

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