Das Publikum will Stücke und Schauspieler zurück

Noch ein paar Worte über Lynchkommandos gegen russische Künstler, ehe ich mich Ernsthafterem zuwende: Den Sprechbühnen kommt das Publikum abhanden. Die Theater werden reagieren müssen

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Ja, ich weiß schon, ich hatte Ihnen noch mehr Erhellendes aus den von Schreihälsen und Denunzianten besetzten Banlieues meiner Branche versprochen (und danke gleich für die vielen, ausnahmslos liebevollen Zuschriften). Ich wollte Ihnen die mit schleimigen Drohungen unterfütterten Inseratenbegehren amerikanischer "Blogger" an Schallplattenfirmen vorlegen. Ich wollte sogar fragen, wie sich das mit der brüllend eingeforderten Verpflichtung zur "Distanzierung" darstellt: Russische Künstler sollen unter persönlichen Risiken gegen einen verhaltenskreativen Diktator aufreiben. Müsste sich da nicht auch der hoch geschätzte, bei den Salzburger Festspielen gut beschäftigte Dirigent Welser-Möst von seinem Ghostwriter distanzieren, wenn der Vorzeigemoralist das Unternehmen als "degeneriert, wohlstandsverwahrlost und toxisch" qualifiziert? Oder im Weigerungsfall seine Verpflichtungen zurücklegen und das ausgeschüttete Schandgeld zurückweisen? Da sei Gott vor, und man kann solch kunstfeindlichem Wahnsinn nur erschrocken entgegentreten.

Andererseits: Die von dem Mann beflegelte Anna Netrebko ist in Paris, Verona und Buenos Aires angekündigt. Sie wird selbstverständlich den Wiener "Aida"-Vertrag erfüllen und an der Mailänder Scala die Lady Macbeth singen, so wie auch ihr Landsmann Ildar Abdrazakow die Titelrolle der russischen Nationaloper "Boris Godunow" (Kompliment an den Intendanten Dominique Meyer, der schon im Umgang mit dem ungerecht abberufenen Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann Charakter gezeigt hat). Mit anderen Worten: Weder Anna Netrebko noch der gleich lautstark bepöbelte Dirigent Teodor Currentzis sind auf Veranstalter angewiesen, die sich von Radaubrüdern einschüchtern lassen. Für den Schaden, den sie ihrem Publikum zufügen, werden sie hoffentlich zur Verantwortung gezogen.

Kommen wir also zu Vordringlicherem. Vor anderthalb Jahren schon hat Roland Geyer, der leider scheidende Intendant des Theaters an der Wien, an dieser Stelle prognostiziert, dass das Publikum nach der Pandemie nicht wiederkommen werde. Ich, halb verhungert nach dem endlosen Entzug, wollte ihm nicht glauben. Und jetzt (ich thematisiere es seit Monaten) ist alles eingetroffen. Die Staatsoper, deren Führung den Betrieb mit ORF-Unterstützung am Glühen gehalten hat, füllt sich zwar schon wieder, ebenso der Musikverein und das Konzerthaus. Sie alle profitieren auch von den wieder einströmenden Touristen.

Aber in den Sprechtheatern könnte man kampieren. Geyer, als designierter Vorsitzender der Volkstheaterstiftung nicht zu beneiden, äußerte an dieser Stelle die Hoffnung, dass sich das zwischenzeitlich zu 20 bis 30 Prozent ausgelastete Haus bald in die Nähe der 50 bewege. Man wird sich diesbezüglich mit dem Akademietheater verständigen können, das zuletzt selbst unter Sonderkonditionen nur 58 Prozent seiner 500 Plätze besetzen konnte. Mitsammen erreichen die Häuser des Burgtheaters 68 Prozent, etwas mehr als die früher stets ausabonnierte "Josefstadt", deren nicht mehr blutjunges Publikum von der Pandemie resigniert und ermattet ist.

Aber in den hauseigenen Kammerspielen ist man schon wieder bei 79 Prozent. Und zwar nicht in erster Linie mit Schwänken, sondern mit einer sauber inszenierten und prominent besetzten "Dreigroschenoper" und der Ionesco-Rarität "Der König stirbt", für die der auratische Regisseur Claus Peymann ein exklusives Ensemble verpflichtet hat. Die von der "Josefstadt"-Direktion eingeschlagene Richtung ist unverkennbar und wird bald auch dem großen Haus nützen: In dieser News-Ausgabe gibt der scheidende Volksoperndirektor Robert Meyer den Wechsel an die "Josefstadt" bekannt. Er trifft dort auf Johannes Krisch, Maria Bill, Michael König, Andrea Jonasson, Therese Affolter und Wolfgang Hübsch, allesamt Kollegen aus sehr respektablen Burgtheaterzeiten.

Während sich hier ein Elite-Ensemble formiert, gruppiert sich beim großen Konkurrenten ein nachlässiger, schlechtgelaunter Multikulturalismus um ein zusehends namenloses Ensemble, dessen Exponenten teils mit der Landessprache hadern. Joachim Meyerhoff und Caroline Peters spielen derweil in Berlin, Nicholas Ofczarek hat sich fast abgemeldet. Ausverkauft ist nur Sartres sauber vom Blatt inszenierte "Geschlossene Gesellschaft", glänzend besetzt mit Tobias Moretti, Dörte Lyssewski und Regina Fritsch.

Es ist schon so, und kein vom selbstkarikierenden Berliner Theatertreffen in den Nachtzug gesetzter Juror mit Tagesfreizeit wird daran etwas ändern: Das Publikum will seine von Dramaturgenhänden unbegrapschten Stücke und seine großen Schauspieler zurück. Politiker, die bei ihren Personalentscheidungen das Publikum ignorieren, müssen entweder über phänomenale öffentliche Mittel frei verfügen können. Oder sie werden sich für die Folgen rechtfertigen müssen.

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