Denn Provinz ist, wo man sie zulässt

Keine verheerende, aber auch keine überragende Bilanz der Wiener Festwochen. Die Kulturpolitik will nicht begreifen, dass eine Stadt ihre Identität braucht, um nicht in Beliebigkeit zu verdämmern

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Die Festwochen sind schon wieder vorbei. Sie waren zwar schon schlechter - nämlich unter der Vorgänger-Intendanz -, aber auch schon besser, nämlich in meiner Erinnerung fast immer davor. Corona gilt nicht mehr, die gesamte Branche hat in diesem Frühjahr ein den jeweiligen Fähigkeiten entsprechendes Vollprogramm angeboten. Die Festwochen, um es gleich vorwegzunehmen, haben mich nur bescheiden überzeugt, wobei ich ein dem Vernehmen nach sehr gelungenes choreografiertes Konzert zum 100. Geburtstag von Jannis Xenakis versäumen musste. Das bedaure ich, wurde da doch endlich wieder eine Eigenproduktion akklamiert.

In noch erinnerlicher Zeit war das der Auftrag: 2014 ließ Romeo Castellucci eine im Lächeln entrückte Wachkoma-Patientin die Welt verzaubern. Mit diesem Gluck'schen "Orpheus" wurde der Opernkunst tatsächlich etwas hinzugefügt, das mehr war als das von Kretins seit Jahrzehnten angeforderte Postskriptum. Im nämlichen Jahr hat Intendant Markus Hinterhäuser mit dem Maler William Kentridge und dem Bariton Matthias Goerne die unermessliche Aufführungsgeschichte der "Winterreise" namhaft fortgeschrieben. Dann kam der andere und dann der bis heute amtierende Belgier Christophe Slagmuylder, der mit seinem Lehrer Gerard Mortier zwar den Willen zur Innovation, aber nicht die Fortüne des Tollkühnen teilt.

Weshalb auch die eine von mir gesehene Eigenproduktion eher der Selbstparodie als dem verdienstvollen Thema "Friede auf Erden" verpflichtet war: Der formidable Schönberg-Chor bot da ein hörenswertes Konzert mit Werken des Namengebers. Doch eine für die begleitenden Turnübungen verpflichtete Dame veranstaltete dazu ein Leintuchwedeln, mit dem die Tanzgruppe der Waldorf-Schulen die Zentralmatura glatt verfehlt hätte. Dass man, um dem pazifistischen Konzept des vokalen Teils folgen zu können, Übertitel geschätzt hätte, wurde im Eifer übersehen. Und die dem Programmheft beigefügten Texte blieben unbeachtet, weil die Waldorfer im Finsteren wedelten.

»Die Festwochen waren schon schlechter, aber auch fast immer besser als heuer«

Ein sehenswertes, von der schmerzlich vermissten Caroline Peters in Eigendramaturgie ersonnenes Brillanzsolo nach E. M. Forster wurde dafür gut ins kleine Hamakom-Theater verräumt, offenbar genierte man sich leicht dafür. Ansonsten betätigten sich die Festwochen als Tourneestation für Vermischtes. Weil Castellucci mit seiner furiosen Visualisierung des Mozart-Requiems zur Unzeit unterwegs war, bekam man das Ereignis schon Anfang April zu sehen. Zuletzt sah man Philip Glass' und Bob Wilsons Leuchtturmwerk "Einstein on the Beach" im Dekorationskitsch ersäuft. Die Premiere war kurz zuvor schon in Basel verübt worden, inwiefern die beiden in Wien gezeigten Reprisen die Voraussetzungen einer Koproduktion erfüllen, wäre so erforschenswert wie der dafür aufgewendete finanzielle Beitrag.

Zwei Gastspiele aus Frankreich erinnerten auf durchaus unterschiedlichem Niveau daran, wie schön Theater sein kann, wenn es der Magie von Texten und Schauspielern statt postdramatischen Flatulenzen vertraut. Adèle Haenel mit einer radikal durchchoreographierten Robert-Walser-Rarität bot das vielleicht Beste der Festwochen. Der "Kirschgarten" aus dem Pariser Odéon gelang zwar dank plumper Diversitäts-Obwaltung arg pauschal. Aber dass die große Isabelle Huppert auf Händen ins Zentrum der Ereignisse getragen wurde: Das türmt die Frage auf, was Caroline Peters auf den Nestroyplatz verschlägt, während anderswo die Waldorfer breitwandwedeln.

Stunden, Tage könnte man das der Kulturpolitik und den von ihr Beauftragten zu erklären versuchen, doch es käme nichts Besseres heraus als im Volkstheater, in der Kunsthalle, zuletzt sogar in den Wiener Mittelbühnen: Eine Kulturstadt braucht Identität, Kumpanei mit ihrem Publikum, Leidenschaft für seine Leidenschaften. Mankers "Letzte Tage der Menschheit", heuer zum zweiten Mal in Berlin, fielen mir da ein. Auch hätte ich Maria Happel nicht nach Reichenau und Nikolaus Habjan um keinen Preis nach Dortmund gehen lassen. Denn Provinz ist, wo man sie zulässt.

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