Die letzte der Großen

Die epochale Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger ist tot. Sie hat Generationen ermutigt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Das Gespräch wollte sie lieber telefonisch führen. Sie sei nicht bei Kräften, sagte Christine Nöstlinger, als ich vor einem Monat in Sorge bei ihr anrief. Viereinhalb Jahre schon war von der Rastlosen, die in Zeiten der Hochaktivität drei und mehr Titel jährlich an die kleine Leserschaft befördert hatte, nichts Neues mehr erschienen. Wann man denn wieder mit etwas rechnen dürfe, fragte ich auch im Namen meiner Töchter, denen sie eine Lebensbegleiterin gewesen war. Da sagte sie mir den Satz, der sich aus dem daraufhin eilig angebahnten Interview rasch verbreitete: "Ich verstehe die Kinder nicht mehr" (hier können sie das Interview nochmals nachlesen). Die letzte große Kinderbuchautorin hatte sich still aus der Welt der Kinder zurückgezogen. 18 Tage nach dem Gespräch waren ihre Kräfte aufgebraucht.

Christine Nöstlinger in ihrem letzten News-Interview: "Ich verstehe die Kinder nicht mehr"

Zu den zwei Generationen, die ihr Zuversicht und den klaren Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse danken, kann ich mich nicht mehr zählen. Aber wie herrlich war es, beim Vorlesen ihrer Werke meine Töchter glücklich zu sehen! Die große, heute 16, liebte "Rosa Riedl, Schutzgespenst" am meisten. Wie da schwerelos, mit heiterem Ernst der insistente Nazi-Dreck aus den Mauerritzen der Gemeindebauten zutage gefördert wird - keiner außer Christine Nöstlinger konnte das. Die Kleinere, heute elf, liebt über alles "Der Hund kommt", eine klassische Fabel in der Tradition Äsops, de La Fontaines, Lessings und Orwells, in der Tiere archetypisch das Menschliche repräsentieren. Oder "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig", die Analyse von Putsch, Revolution und Konterrevolution aus der Gemüseperspektive: Wer außer Christine Nöstlinger hätte das gewagt?

Sie konnte etwas, das vielleicht nur noch Erich Kästner und Tove Jansson ("Die Mumins") beherrschten: den Blick nicht von außen auf die Kinder zu richten, sondern wie aus dem Inneren der Kinderseelen zu berichten. Die Sorgen eines Kindes, das vor Kummer nicht einschlafen kann, sind groß und schwer wie Gebirge. Christine Nöstlinger konnte sie leichter machen, ohne sie zu bagatellisieren. Sie hat mit den Kleinen nicht wie mit Schwachsinnigen gesprochen und mit den Großen nicht die verlogene, vorauseilende Kumpanei vieler Branchenkollegen gepflogen. Sie hatte ihre Prinzipien und hielt von der antiautoritären Erziehung, aus der Astrid Lindgren noch ihre Energien schöpfte, gar nichts. Sie vereinte die Schönheit der Seele mit der Klarheit der Gedanken und der Kraft der Gesinnung. Ihre Bücher sind das Ermutigendste, das für Kinder geschrieben wurde, und diese Zuversicht teilt sich auch den vorlesenden Erwachsenen mit.

Dass ich selbst mit ihnen aufgewachsen wäre, dafür bin ich eine Spur zu alt. Aber als zweitsemestriger Student im Hörsaal eins der Wiener Uni ein atemloser Zeuge, wie Christine Nöstlinger aus dem Gedichtband "Iba de gaunz oaman Kinda" las: Da bin ich, ein tendenziell schnöseliger, apolitischer bis konservativer Twen, wohl erstmals sacht auf die linke Seite gerückt.

Erinnerungen gibt es viele. Sie war ein wunderbar gerader, Außenstehenden gegenüber oft schroffer, dabei fürsorglicher und liebevoller Mensch. Es war ein Erlebnis, sie zu treffen, und ein Erlebnis, sie zu lesen, und anlässlich einer Jubiläumsausgabe meines Buchmagazins "Erlesen" auf ORF III hat sie mir das Kompliment meines Lebens gemacht. Sie fuhr nachher mit Peter Turrini per Taxi in die Stadt zurück und sagte plötzlich: "Du, der liebt uns ja wirklich!" Da kann ich ihr - wie in allen anderen Fällen auch - nicht widersprechen.