No more Mohr?
Nevermore!

Einlassungen zum "Rosenkavalier", vor 52 Jahren und heute. Die Aufführung der Staatsoper war mehr als beachtlich. Aber einen wichtigen Mitwirkenden gibt es nicht mehr

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Was der 20. September 1969 für mich bedeutet? Ungefähr (aber nicht ganz) das, was der 13. Juni 2021 für meine Tochter Dorothea bedeutet: den ersten "Rosenkavalier"! Nicht ganz, weil meine Tochter von ihrer ersten "Götterdämmerung" und ihrer ersten "Salome" noch mehr gebeutelt war. Ich hingegen, 14 Jahre alt, war nach dem "Rosenkavalier" glückszerwühlt, in vollkommener, verheulter Auflösung. Nicht ums Leben wäre ich in diesem Zustand in den Dreiundvierziger eingestiegen, der mich heim ins ferne Dornbach gebracht hätte. Also rannte ich, in misstönendem Pubertanten-Counter wieder und wieder das Schlussduett krächzend, die Universitätsstraße, die Alserstraße, die Hernalser Hauptstraße hinan, bis ich zu polizeilich verbotener Stunde meine wütenden Eltern aus ihrer Angst erlöste. Ein Dreivierteljahr vorher hatte ich ihnen eröffnet, dass ich von nun an mehrmals die Woche den Stehplatz zu besuchen gedächte. Als sie, auch unter Hinweis auf die oben erwähnten Maßnahmen des Jugendschutzes, ablehnten, täuschte ich einen Hungerstreik vor, und fortan hatten sie keine guten Nächte mehr, wenn ich unterwegs war.

Klar, dass mir am vergangenen Sonntag der Abend vor 52 Jahren einfiel. Die Schenk-Inszenierung ist keinen Tag gealtert, nur dass in ihr heute Bernstein und Kleiber nachklingen und Philippe Jordan trotzdem gute Figur macht. Aber sonderbar still ist es jetzt in der wieder akzeptabel auslastbaren Oper. Gerade, dass sich für die feine, der unsterblichen Christa Ludwig gewidmete Aufführung noch eine Runde Solovorhänge ausging. Der als kluge pandemische Vorkehrung mit weit auseinander positionierten Sesseln versehene Stehplatz ist kaum zu zwei Reihen besetzt. Das hat zwei Gründe: Die Touristen, die sich oft ins Stehparterre verirren, sind nicht da. Und der Stehplatz ist insgesamt schon lang nicht mehr, was er früher war: ein Internat für Narren, die sich konkurrenzloses Wissen um Stimmen und Dirigenten erwarben, aber derart libidinös in die Musik verbissen waren, dass sie in szenisch-ästhetischer Hinsicht über den Stand des Förderkurses nicht hinausgelangten. Als sinnvollerweise die Studentenkarten eingeführt wurden, war es mit dieser Kumpanei, die sich über Fanclub-Rivalitäten auch in Todfreundschaften manifestieren konnte, vorbei. Die alles überwältigenden Chöre der Zustimmung, die zerstörerischen Buh-Orkane verlieren, über ein Haus von mehr als 2.000 Plätzen verteilt, an Wirkung und Vehemenz. Insgesamt haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Die Kritiker mutmaßen mit bis zu 90 Prozent über das Szenische, und das ist auch besser so, denn das Musikalische wird häufig mit dem Begleithund ertastet. Weiß noch einer, was im "Rosenkavalier" die "Rosen" ist? Nicht die Überreichung derselben im zweiten Akt, sondern der im Schmerzenspianissimo gehauchte Überbringungsauftrag der Marschallin an den kleinen Mohren. Leonie Rysanek, meine erste Marschallin, hatte die "Rosen" so schön wie niemand sonst, Lisa della Casa und die Janowitz vielleicht ausgenommen. Marlis Petersen hatte am Sonntag die "Rosen" nicht besonders schön und war doch eine wunderbare, intensive Marschallin. Obwohl, das arg restriktiv angegangene Ces im Terzett, ein Aufschrei des Verzichts ... ich höre lieber auf, Opernnarren haben es an sich, ganze Abendgesellschaften zu schmeißen.

Aber auf etwas anderes muss ich verweisen: Den erwähnten kleinen Mohren gibt es im Programmheft nicht mehr. Vielmehr verkörpert da ein weißes, anmutiges Kind einen gewissen "kleinen Mohammed". Wie lang das schon Gepflogenheit ist, weiß ich nicht. Aber die Rolle heißt so wenig "der kleine Mohammed", wie Othello "der Mohammed von Venedig" untertitelt ist. Die Staatsoper hat vermutlich recht, warum soll sie sich für nichts von irgendwelchen Radaubrüdern niederbloggen lassen? Andererseits: für nichts? Othello, Aida, Carmen, Monostatos, der Zigeunerbaron ... die Zahl der Inkriminierungsopfer wächst, Widerstand ist nötig. Bildungsferne rechtfertigt zwar Empörung (zu der jeder berechtigt ist), nicht aber kulturellen Vandalismus und Geschichtsfälschung. Wer also den "Rosenkavalier" nicht erträgt, ist herzlich eingeladen, ihm fernzubleiben. Sollte er vor oder gar während der Vorstellung Künstler und Besucher belästigen, ist er hinauszubegleiten. No more Mohr? Nevermore! Vielmehr: Mohr forever!

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz@news.at

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