Die ersten drei
Monate der neuen Burg

Was hat Martin Kušej gebracht, was ist ihm gelungen? Seine "Hermannsschlacht" gehört nicht dazu. Aber Bibiana Beglau und Franz Pätzold sind Errungenschaften

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wesentlich riskanter kann man im deutschsprachigen Theater nicht ansetzen, so gesehen hätte der Absturz weit schlimmere Blessuren nach sich ziehen können: Just als die (von älteren Kritikern nach wie vor eingehaltene) dreimonatige Schutzfrist für frische Theaterdirektoren ablief, fing Martin Kušej im Teutoburger Wald eine Niederlage ein, die branchenweit mit jener des römischen Feldherrn Varus verglichen wird. Den verkörpert in Kušejs Inszenierung der Kleist’schen "Hermannsschlacht" übrigens der Ensemble-Veteran Falk Rockstroh, der sich bei dieser Gelegenheit als einer der wenigen akustisch wahrnehmbaren Mitwirkenden präsentiert. Das unterscheidet ihn auch vom an sich achtbaren, hier aber bis zur Gesichtslosigkeit überforderten Titelhelden Markus Scheumann. Kušej hatte für seine erste eigene Regiearbeit im Amt namhafte Darsteller angefragt. Aber keiner wollte in die Grand-Canyon-tiefen Fußstapfen des Zweijahrhunderteschauspielers Gert Voss, dem vor mehr als drei Jahrzehnten mit Claus Peymann ein Ereignis von theaterhistorischer Dimension geglückt ist.

Voss hat mir erzählt, wie das kam. Zum Schrecken des Ensembles kaprizierte sich Peymann auf das allseits gemiedene Stück, dessen deutschnationale Verkündigungswucht im Nazireich sehr geschätzt wurde. Das Werk trägt seinen schlechten Ruf allerdings unverdient: Kleists Nationalismus richtete sich ja gegen den Imperialisten Napoleon, die "Hermannsschlacht" ist somit ein Stück der politischen Résistance. Das begriff die zusehends desperate Truppe aber erst durch Zufall, als man während der Proben genau dort zu stranden drohte, wo jetzt Kušej auf Grund gelaufen ist: Man hatte sich schon im bärenfellenen Lendenschurz und in der SS-Uniform versucht, und das Ergebnis wurde immer lächerlicher. Da sah Peymanns großer Dramaturg Hermann Beil auf dem Souffleurkasten die Baskenmütze eines Bühnenarbeiters liegen, setzte sie dem verzweifelnden Cherusker-Darsteller auf, und wie von Zauberhand drehte sich alles. Voss und Peymann schufen eine in unergründlicher Vielfalt schimmernde Gestalt, Freiheitskämpfer und Massenverführer, Biedermann und Narziss, das Ganze um das Zentralgestirn des herrlichen Kleist’schen Verses kreisend.

Anno Kušej schnallen die Germanen wieder das Bärenfell um, nicht ohne sich zum Finale als Burschenschafter zu kostümieren. Das ist flach und naheliegend, zudem steht den starken Bildern und beklemmenden Gewaltszenen ein an die Substanz rührendes Problem entgegen: Verdienstvollerweise hat Kušej zumindest für seine eigenen Arbeiten die elenden Mikroports abgeschafft. Nur gibt es, das rätselvolle Wunderwesen Bibiana Beglau ausgenommen, an diesem Abend unter den neuen Schauspielern kaum einen, der den sprechtechnischen Anforderungen eines großen Hauses und eines großen Textes gewachsen wäre.

Womit ich bei der Bilanz der bald 100 Tage Kušej bin, und die lautet: alles soweit unter Kontrolle. Demnächst sechs Inszenierungen von der Hand des Direktors (vier von ihnen importiert, der formidable "Weibsteufel" als Wiederaufnahme) sind zwar großzügig bemessen. Die "Hermannsschlacht" ausgenommen, schmücken sie aber das Repertoire: Albees "Virginia Woolf" gewinnt vor allem dank Bibiana Beglau, ansonsten hilft dem Stück, das mit seiner buchstabierten Psychoanalyse in den amerikanischen Sechzigerjahren festsitzt, Kušejs kalte Versuchsanordnung über das Gröbste. Kušejs "Faust" hat große Vorzüge: Bibiana Beglau, Andrea Wenzl und Werner Wölbern sind ein tadelloses Ensemble. Und wenn sich das Ganze fängt, sieht man eine gute, konservativ gearbeitete Inszenierung. Bis dahin dauert es allerdings, denn Kušej hat die Prologe und die Studierzimmerszenen gestrichen, was als berufsjugendliche Albernheit qualifiziert werden muss. Fabelhaft ist sein Münchner "Don Karlos" mit Franz Pätzold, dem Posa mit Protagonisten-Gen: Hier geht es einzig um Schillers Sprache und die tollen Schauspieler, die, aus tiefem Dunkel geleuchtet, ganz auf ihr Können gestellt sind. Das steht in Zeiten theaterfremder Video-Allotria schon im Status der Zumutung, entsprechend schwer hat es die Aufführung in Quotenbelangen.

Die Auslastung also, und inwiefern sie den künstlerischen Status dieser drei Monate spiegelt. Kušej gab zuletzt (möge es so bleiben) erfreuliche Zahlen jenseits der 80 Prozent bekannt. Dafür verantwortlich ist in erster Linie sein „Faust“. Auch die vorjährigen Adaptionen von "Mephisto" und "Medea" zeigen keine Anstalten, sich abzuspielen, denn hier kann man den sonst karenzierten Nicholas Ofczarek bzw. Caroline Peters sehen. Im Akademietheater brummen Kušejs "Weibsteufel" (mit Moretti und Minichmayr) und eine von mir nicht gesehene Dramatisierung des Romans "Der Meister und Margarita". Ulrich Rasches packend ritualisierte Inszenierung der "Bakchen", die hochpoetische, hochpolitische Boulevardgroteske "Vögel" und Kušejs "Virginia Woolf" hingegen flachen schon stark ab – eine Verlegenheit, in die Mikael Torfasons infantile, aus Hannover übernommene "Edda"-Adaption gar nicht erst gekommen ist: Zur sprachraumweit stilbildenden deutschen Provinz auch noch die aus Reykjavík zu importieren, ist ein überdenkenswerter Entschluss. Die Groteskkomödie "The Party" wiederum laboriert an einer humorresistenten Jungregisseurin von Thunberg’scher Übellaunigkeit, die das Publikum selbst vor Könnern wie Peter Simonischek zögern lässt. Hier sollte man durch die Erfahrungen der ersten Peymann-Jahre gewarnt sein: Den Schatz eines ererbten Meisterensembles in B-Produktionen zu vergraben, bringt Unfrieden ins Haus.

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