Ein Lear für den
Schizo-Punker!

Ein Abend erstaunlicher Erkenntnisse im "Burg"-Kasino: Franz Morak rockt eineinhalb Stunden lang die alte Wirkungsstätte. Die großen, alten Schauspieler sind rar geworden

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wenn Sie am Abend des Erscheinens dieser Ausgabe nichts anderes (denn Besseres werden Sie schwer finden) zu tun haben: Schauen Sie im Burgtheater-Kasino auf dem Schwarzenbergplatz vorbei, und Sie werden (Domingo vielleicht ausgenommen) sämtliche Vorbehalte gegen singende Aktiv-Senioren aufgeben. Das Programm mit tüchtiger Band heißt "morak/alles", und der Titel trifft. Der schon im vergangenen Jahrtausend an die Politik verlorene Burgschauspieler Franz Morak kehrt für drei Abende an die Kleinversion seines Hauses zurück. Fachterminologisch präzisiert: Er rockt das Kasino, und er tut das, ein halbes Leben nach dem Rückzug von der Bühne, im Vollbesitz seiner Mittel. Anlass ist das einige Monate zurückliegende Erscheinen der CD "Leben frisst rohes Fleisch", mit der sich der emeritierte Schizo-Punker der Achtzigerjahre überraschend wieder ins Geschehen eingebracht hat.

Das Programm, eineinhalb pausenlose Stunden lang, fordert dem bald 72-jährigen Alt-Staatssekretär für Kultur, Medien und Sport Erhebliches ab. Aber als wären die sieben Jahre in der Regierung Schüssel-Haider nur die episodenhafte Verirrung eines professionellen Querkopfs gewesen: Alle Qualitäten von seinerzeit werden wieder schlagend - die immense, fast konkurrenzlose Sprechkultur, die messerscharfe Präsenz des Schauspielers ebenso wie der radikale Nihilismus der Liedtexte, die damals manchen schon zu weit gingen. So wie dann die alte Klientel von ihm abfiel, als er sich der schwarz-blauen Regierung anschloss und grundvernünftige Maßnahmen (etwa die Ernennung der Direktoren Matthias Hartmann und Robert Meyer) setzte. Noch in der Distanz zweier Jahrzehnte sah sich das Bobo-publizistische Fachsegment beim Erscheinen der CD "Leben frisst rohes Fleisch" außerstande, den Sabberfaden unter Kontrolle zu halten.

Davon verstehe ich nichts und mag mich nicht einmischen. Aber der Schauspieler Franz Morak, den ich singend und rezensierend im Kasino erlebt habe: Der muss auf die Bühne zurück. Damals war er der beste Nestroy-Spieler seiner Zeit und fuhr als Brechts Arturo Ui zum (seinerzeit noch ernst genommenen) Berliner Theatertreffen. Heute müssten sich die Bühnen für einen womöglich konkurrenzlosen Lear, Prospero, Zauberkönig, Philipp oder Großinquisitor öffnen, einen zu Stein gewordenen Ibsen'schen Machtmenschen oder einen lebenden Toten in der Beckett'schen Mülltonne.

Denn die Pointe ist grausam genug: Moraks Generation, die jetzt auf dem Höhepunkt ihrer Alterskarrieren stehen müsste, wurde in den vergangenen Jahren fast ohne Überlebende ausgelöscht. Gert Voss, Ignaz Kirchner, Bruno Ganz, Karlheinz Hackl, Otto Sander, selbst der wesentlich jüngere Ulrich Mühe haben sich lang vor der Zeit verbrannt. Wie Moraks Beispiel zeigt, übt dagegen die Politik konservierende Wirkung aus. Sieben Jahre Kulturpolitik im Proteststurm der eigenen, fundamentalopponierenden Klientel sind offenbar nichts gegen den allabendlichen Kampf auf Leben und Tod, den ein großer Schauspieler gegen seine eigenen Ansprüche zu bestehen hat.

Womit ich, aus gegebenem Anlass, wieder beim Ceterum censeo bin: Wie traurig das ist, dass heute niemand mehr auf seiner Bühne alt werden darf. Der von der weisen Lotte Tobisch als idealtypisch empfohlene Weg vom Don Karlos über den Posa zum Philipp und, in der Spätabenddämmerung der Karriere, zum Großinquisitor: Seit Generationengedenken gibt es das nicht mehr (Attila Hörbiger, den ich am Ende seines Lebens noch auf der Bühne sehen durfte, war der vielleicht Letzte). Weil neue Direktionen ungern auf ihnen anvertraute alte Ressourcen zurückgreifen. Auch wenn die nicht weniger als die Goldreserve des Hauses sind.

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