Die Kunst ersäuft
im Soziologengeschwätz

Gehen Sie manchmal an der Wiener Kunsthalle, Expositur Karlsplatz, vorbei? Lesen Sie den Phrasenschwall an der Seitenwand, und Sie wissen, weshalb Kunst nicht mehr ankommt

von / Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Dass man sich der Wiener Kunsthalle - im Speziellen: ihrer Expositur auf dem Karlsplatz -anders als durch Zufall nähern könnte, ist unwahrscheinlich. Seit ihr erfolgreicher Direktor Gerald Matt 2012 anlasslos aus dem Amt gedrängt wurde, hat sich die öffentliche Wahrnehmung dem Zulauf angenähert (wobei sich der von Matts Nachfolger aufgeblähte Kuratorenapparat den Besuchern gegenüber in permanenter Überzahl befunden haben soll). Matt musste gehen, weil der damalige grüne Kultursprecher gegen ihn eine Kampagne entfesselt hatte, deren Anlass -angebliche Unregelmäßigkeiten -mittlerweile gerichtlich für gegenstandslos erklärt wurde. Da war es allerdings schon zu spät, denn der Stadtrat war vor dem bisschen elaborierter Öffentlichkeit eingeknickt. Matts Nachfolger Nicolaus Schafhausen, ein Exzentriker an der Schwelle zur Verhaltensoriginalität, fiel nur kurz auf, als er überall auf seinem Hoheitsgebiet Adler affichieren ließ. Als die neue Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler ins Amt trat, reichte der Mann eilends seinen Abschied ein. Weshalb ich Ihnen diese bedrückenden, aber in Fachkreisen doch geläufigen Tatsachen in Erinnerung rufe? Weil ich neuerdings wieder öfter an der Expositur Karlsplatz vorbeikomme. Anlass ist (ich bekenne es beschämt) nicht etwa mein Interesse am kroatischen Künstlerinnenkollektiv, das Schafhausen nachfolgt. Sondern vielmehr die baubedingte Umstellung des Betriebs der Linie U4 auf Schienenersatz, die atypische Massen an dem Glaskubus vorbeitreibt. Dass deshalb jemand vor der Kunsthalle stehengeblieben wäre, könnte ich nicht bestätigen. Doch, einer steht fast täglich sinnend vor der Seitenfassade: nämlich ich, und meine Gedanken sind keine frohen. Das dort affichierte Transparent erbricht nämlich in einem nicht endenden Schwall anverdauter Sprachbrocken die Stereotype, von denen seit einem Jahrzehnt die Kunst aller Sparten geflutet wird. "kommunikation. acceptance. co-existence. critique. contribution. diskurs. dynamik. empowerment " Brauchen Sie noch mehr Soziologen-Twitter? Zumindest auf "future. diversität. empathie. impuls. commons. solidarity. opportunity" werden Sie doch nicht verzichten wollen. Da haben wir exemplarisch das Dilemma, das den Kundigen wie den Unkundigen die Kunst verleidet. Kunst braucht nämlich weder co-existence noch diversität. Sie braucht nicht einmal empathie und solidarity. Korrekt ist sie überhaupt nicht, und wie sie entsteht, lässt sich nach #MeToo-Kriterien nur äußerst schwer regulieren. Das prinzipiell schätzenswerte Verbot, Grenzen zu überschreiten, kann nur von Fall zu Fall (im Bedarfsfall aber streng) exekutiert werden: Denn Kunst ist permanente, sich jedes Mal von null erfindende Grenzüberschreitung. Wenn sich ein weißer Schauspieler das Gesicht schwarz schminkt, um die Qualen eines Außenseiters glaubhaft zu machen, so ist das nicht Blackfacing, sondern "Othello".

Klar: Wenn einem das Hirn mit contribution und opportunity verstopft ist, wird man Christian Ludwig Attersee vorschreiben, dass er Schifahrerinnen nicht nackt darzustellen hat. Dann wird man Frank Castorf, Peter Zadek und Claus Peymann für Tyrannen halten und das Theater menschenfreundlichen Digitalbastlern mit sauberen Botschaften ausliefern. Auf Seite 68 bringt Valery Tscheplanowa, eine aufregende Schauspielerin aus der Castorf-Schule, Bedenkenswertes vor. Das Theater sei ihr fast verleidet, denn es sei zu Formen und digitalen Bildern stereotypisiert, klagt die Salzburger Buhlschaft. Aber: "Das Theater ist immer noch Sprache, die Bilder in den Köpfen von Zuschauern entstehen lässt." Ich weiß gar nicht, wie oft mir das der unsterbliche Gert Voss eingeschärft hat.

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