Die Kulturverliebten
verlieren die Geduld

Es kam wie erwartet: Nachdem die Kunst einen Monat lang kein Thema war, bleiben jetzt die Theater mit Glück nur bis 7. Jänner geschlossen. Die Kulturnation dankt ab

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Im Lichte vorangegangener Einlassungen wird es Sie nicht überraschen, dass sich mein Groll nahezu stündlich vermehrt hat, seit ich am 2. November vor der Staatsoper im Kreise bewaffneter Wega-Beamter auf meine Tochter gewartet habe. Sogar an diesem Tag des Schreckens war sie in der Oper sicher aufgehoben. Sie hatte das mit den täglichen 1.000 Personen gemeinsam, die seit Anfang September das Programm des neu amtierenden Direktors Bogdan Roscic mit Ovationen und Empörungsbekundungen begrüßten. Infiziert wurde während dieser beiden Monate im Zuschauerraum niemand, so wenig wie in den anderen großen Theaterhäusern. Denn anders als für Schuhgeschäfte und Einkaufszentren wurden für die Theater wegweisende Sicherheitskonzepte entwickelt. Federführend waren dabei die Stadt Wien und die großen Bühnen, die Philharmoniker und vor allem die Salzburger Festspiele, die, auch für die Großtat ihres Stattfindens, soeben als Festival des Jahres ausgezeichnet wurden.

Mittlerweile stiegen allerdings die Infektionszahlen in atemberaubende Höhen. Seit Juni konnte das (wegen der geringen Zahlen noch unauffällige) Wachstum des Reproduktionsfaktors beobachtet werden: seit die Regierung die Maskenpflicht aufgehoben und Urlauberscharen zu beiderseitigem Grenzverkehr ermuntert hatte. Plötzlich waren auch 50.000 Demonstranten auf der Straße, und ihnen folgten, mit guten oder schlechten Absichten, Tausende andere.

In der 2.500 Plätze fassenden Oper aber saßen bei ersten Konzerten im Juni 100 Personen. Und hätten nicht Künstler und Kulturpublizistik die fachlethargische Staatssekretärin Lunacek aus dem Amt gebeten, wären es bis zum neuerlichen Zusperren am 3. November vermutlich nicht wesentlich mehr geworden. Aber auch nach diesem Datum, und selbst nach dem 17. November, wollte anderswo das fröhliche Treiben kein Ende nehmen. Wir durften weiter unseren täglichen Bedarf an Feuerwaffen decken, in Einkaufszentren und auf Demonstrationen unserem Geselligkeitsdrang stattgeben und in Gottes- häusern aller Zweckwidmungen weiter dem jeweils zuständigen Herrn Lob singen. Und wenn sich daheim im Partyfrohsinn die Wände bogen, konnte maximal wegen Lärmbelästigung eingeschritten werden (darf ich also, vorausgesetzt, die Sache entwickelt sich geräuscharm, zu Hause auch meine Kinder prügeln und mit Rauschgift handeln?). Aber klar, eine Behörde, die zum Gaudium hoher Gerichtshöfe und unausgelasteter Advokaten mit den simpelsten Verordnungen überfordert ist, wagt sich besser nicht an Grundrechtsfragen.

Dann erhob sich auch schon die Frage nach dem Danach. Der Begriff „Kultur“ ist mir in der Debatte, in deren Verlauf mit Emphase der Nikolo auf den Weg befördert und die Inbetriebnahme ungenutzter Schilifte forciert wurde, kein einziges Mal untergekommen. Sie hatte das mit anderen „Freizeiteinrichtungen“ aus Anschobers Zusperr-Erlass gemeinsam, unter ihnen Automaten- und Paintballhallen und Bordelle.

Und jetzt kam es, wie es kommen musste. Im Gleichschritt mit der Gastronomie werden die Theater irgendwann im Jänner vielleicht öffnen, wenn es beim Schuhhändler schon längst wieder hoch hergeht. Die Erbitterung der Gastronomie und der Hotellerie hält sich dabei in Grenzen. Klar: Wenn mir in touristenfreier Zeit jemand bis zu 80 Prozent des vorjährigen Weihnachtsumsatzes bezahlt, mache ich mit der Kurzarbeit noch den goldenen Schnitt. Auch die Erregung mancher Theaterdirektoren hält sich aus diesen Gründen in Grenzen. Dass aber eine ganze, pretiosenhafte Population an Freiberuflern – Schriftsteller, Schauspieler, Kabarettisten, Musiker – nur noch verzweifeln kann, und dass die für sie vorgesehenen staatlichen Trinkgelder keineswegs alle erreichen: Das steht auf dem Blatt, das die Regierung vorsichtshalber unbeschrieben lässt.

Dass Wien gerade mit Blick auf die Kulturbranche Tests entwickeln lässt, die binnen drei Minuten präzise Ergebnisse erbringen: egal, seit sich der Kanzler kicksend über "Kulturverliebte" zerkugelt und der Kunstvizekanzler den Philharmonikern über die "Tiroler Tageszeitung" ausgerichtet hat, dass das Neujahrskonzert heuer ohne Publikum stattfinden wird. Dass einer der beiden der Kunst überhaupt etwas ausrichten darf: Das ist das eigentliche Verhängnis, das der Kulturnation noch aufzulösen geben wird.

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