Ingeborg Bachmann wäre einverstanden

Das Klagenfurter Wettlesen, nach zwei Jahren wieder in Vollbesetzung mit Autoren, Juroren und Besuchern, ist überraschend zu einem nachvollziehbaren, ja stürmisch zu begrüßenden Resultat gelangt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

So etwas von einverstanden mit dem Gewinner war ich zuletzt 2017. Damals wurde in Klagenfurt Ferdinand Schmalz als sprachraumüberleuchtender Satiriker beglaubigt, jetzt hat mich die in Niederösterreich wohnhafte Slowenin Ana Marwan in ein hoffnungsloses Abhängigkeitsverhältnis zur Wechselkröte versetzt. Welch ein Text! Perfekt in der Form, betörend in der Kunst des Irrlichterns, furios im Spiel mit den Metaphern, unheimlich und amüsant. Und solch eine Virtuosität der Sprache! Eine junge Frau, allein im Landhaus. Sie hält sich für etwas bereit, aber wofür, für wen? Sie kleidet sich sorgsam, aber nur vom Hals bis zur Hüfte, um vom Briefträger durch das Fenster die Post entgegenzunehmen. Im Pool hat eine gefährdete Amphibienart Quartier genommen. Dann wird die Ich-Erzählerin nach den Gesetzen des Märchens schwanger, und die Ereignisse rasen in ihrem Kopf voraus, Jahrzehnte bis zur Apokalypse und retour.

In den beiden vergangenen Jahren bin ich verstimmt nach Hause gefahren. 2020 musste ich zusehen, wie die überlegene Salzburgerin Laura Freudenthaler aus sieben Jurorenwohnzimmern auf den vierten Platz taktiert wurde. Im evakuierten Klagenfurter Sendesaal liefen die Intrigenfäden aus dem digitalen Universum womöglich noch penetranter zusammen: So lange wurden die von der jeweiligen Gegenseite nominierten Bewerber hinuntergewertet, bis nur eine bezaubernde alte Dame aus der ehemaligen DDR übrig blieb.

2021 steigerte sich das Procedere zur Selbstpersiflage: Anwesend waren nur die Juroren. So konnten sie mit Hilfe der eingespielten Beiträge den tatsächlichen Zweck des Bewerbs – die Selbstdarstellung der Literaturkritik – unter Idealbedingungen erfüllen. Aussichten hatten de facto nur Texte aus dem Themenbereich Migration und Fremdsein, und ein mittelmäßiger hat gewonnen. Verworfen wurde, was mit Poesie, Atmosphäre, Farben, kurz: mit Sprache zu tun hatte. Es ging um Diversitätspolitik, nichts sonst.

Heuer lasen die Autoren im sommerduftenden Garten, und die im Studio internierten Juroren waren einem objektivierenden Punktesystem verpflichtet. Das war schon ein Fortschritt, und dennoch behaupte ich: Dass der beste Text gewonnen hat, ist das Resultat der taktischen Brillanz des einladenden Jurors Klaus Kastberger. Nicht genuin deutschsprachig, Frau: Das waren ausreichende Argumente. Sonst hätte leicht der Zweitplatzierte gewinnen können, der Rumäne Alexandru Bulucz mit dem feierlich beleidigten Migrationstext „Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen“. Zum titelgebenden Betroffenheitsraunen holt der kurze Text (mein Dank an die Google-Suchfunktion) zwölf Mal Luft. Man verzehrt sich förmlich nach den erlösenden acht Buchstaben des Wortes „Rumänien“. Weniger aber nach schleißigen Journalismen wie „mutiert“ und „grenzwertig“. Abgesehen davon, dass eine Ankunft nichts ziehen kann, auch keinen Schlussstrich. Ich nenne das Kitsch.

Ebendieser aber wurde dem Beitrag „Dieses ganze vermeidbare Wunder“ der Deutschen Leona Stahlmann fast einstimmig attestiert. Klima-Kitsch sei diese Dystopie, ein an allen vier Ecken in die Breite gezerrtes Transparent der Freitags-Teenies. Es geht aber gar nicht um Gewessler-Prosa, sondern um eine junge Frau, die, wenn nicht alles bloß ein Albtraum ist, in eine unbewohnbare Welt ein Kind geboren hat. Ein missgebildetes vielleicht, das unter dem Blick der Liebe schön wird? Oder ein schönes, das sich unter der Angstfolter, das Liebste nicht schützen zu können, zum Wechselbalg verzerrt? Bilderstark ist der Text, aufgeladen mit Mythologie, verrätselt mit Assoziationen, die zu E. T. A. Hoffmann und Christine Lavant führen.

Oder, noch schöner: „Sand“, der Beitrag der Österreicherin Barbara Zeman. Ein Reisebericht nach Venedig, vielleicht nach Chioggia, das wir von Goldoni kennen. In eine alles andere als unbereiste Gegend also, die aber selten mit solch leuchtender, schimmernder Farbenpracht beschrieben wurde, mit solchem Wissen aus den Disziplinen der Kulturgeschichte und als Ort eigener Seelenverwerfungen. Keine Chance auf Prämierung, aber Sie können den Text, so wie alle, über den Internetauftritt des Bachmann-Preises abrufen. Vielleicht wagen Sie sich sogar mit der Deutschen Eva Sichelschmidt an das Sterbebett ihrer Großmutter. Wie da, eine fliehende letzte Stunde lang, Atemzüge, Blicke, Bilder des Verfalls in ein Archiv der Erinnerung geborgen werden, das kann einem das Herz zerreißen. Oder Sie suchen sich das Brillanzstück des Deutschen Juan S. Guse, das es wenigstens zum dritten Platz geschafft hat. Und natürlich gönnen Sie sich den Fulminanztext unseres Elias Hirschl. Wenn Sie nicht ohnehin schon beteiligt waren, ihm den höchstverdienten Publikumspreis zuzusprechen.

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