Darf Gusenbauer an der "Met" singen?

Jahrelanges Scheffeln hiesiger und auswärtiger Alt-Politiker zieht bisher maximal indigniertes Stirnrunzeln nach sich. Aber Anna Netrebko und Valery Gergiev werden von Heuchlern bedrängt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Und wieder ist Schüssel, der alte Fuchs, der Schlaueste von allen. Wie er wortkarg an seinem Aufsichtsratsmandat beim russischen Mineralölkonzern Lukoil festhält, aber mit den Erlösen diskret die bedrängte ukrainische Demokratie unterstützt! Anders kann es ja nicht sein, denn sonst müsste Schüssel (nach meiner Information kein russischer Staatsbürger) unverzüglich aller nationalen und internationalen Mandate entbunden werden. So wie es derzeit dem bedeutenden Dirigenten Valery Gergiev widerfährt, der russischer Staatsbürger mit den zugehörigen existenziellen Interessen ist. Auch Christian Kern, der sich soeben widerstrebend von den Russischen Staatsbahnen verabschiedet hat, überweist sicher schon im Sinne tätiger Reue die seit Juli 2019 lukrierten Beträge nach Kiew. Nicht zu reden von Gusenbauer, der es seinerzeit als Proponent einer "Hapsburg Group" in die Weltmedien gebracht hat. Weil er dort nämlich für den nachmals von der Interpol gesuchten ukrainischen Gangsterministerpräsidenten Janukowytsch, eine Putin-Marionette, agiert hat. Gusenbauer selbst stellt sich schon auf Grund seines beträchtlichen Fassungsvermögens weniger als Marionette denn als Babuschka dar. Er war auch für den Kreml-gesteuerten Think-Tank "Dialogue of Civilizations Research Institute" tätig und hat damit fraglos dazu beigetragen, die Zivilisation dem aktuellen Stand näherzubringen. Er könnte sich mit dem Amtsbruder i. R. Gerhard Schröder einen Tieflader teilen, um das Gescheffelte per Fahrgemeinschaft ins Kriegsgebiet zu transportieren. Oder was ist auf der anderen Seite mit Christoph Leitl, Hansjörg Schelling, Karin Kneissl ..?

Auch sie sind keine russischen Staatsbürger, und ich will im Lichte ihrer politischen Vorkenntnisse auch keinem von ihnen unterstellen, die Annexion der Krim anno 2014 im Drang der Geschäfte übersehen zu haben. Doch wurde bis zur Stunde nicht einmal Gusenbauer die Viktor-Adler-Plakette aberkannt. Aber Gergiev! Der wird jetzt wegen einer vor acht Jahren verabschiedeten Solidaritätsadresse serienweise aus den Verträgen geworfen. Unter anderem haben ihn die Bürgermeister von Mailand und München aufgefordert, sich binnen Wochenfrist gegen Putin zu erklären. Anderenfalls werde er der Verpflichtungen mit der Mailänder Scala und der Leitungsposition bei den Münchner Philharmonikern entbunden. Mit anderen Worten sollte er quasi über Nacht gegen sein Land und seinen Arbeitgeber auftreten, eine Art Tollkühnheit, die man gern mit Bewunderung zur Kenntnis nähme, aber realistischerweise keinem Menschen abverlangen könnte. Nicht zu reden davon, dass Gergiev für das Gedeihen von 2.000 Bediensteten des St. Petersburger Marijnski-Theaters geradesteht (lesen Sie dazu auch die erhellende Geschichte meiner Kollegin Susanne Zobl in dieser Ausgabe). Die Bürgermeister von Mailand und München sollen also besser in Demut ihre Freikarten konsumieren, statt im Namen beschämend leicht einzuschüchternder Institutionen dilettantische künstlerische Entscheidungen zu treffen. Und dann sollen sie die Profite ihrer Kommunen aus Geschäften mit der Russischen Föderation bis wenigstens 2014 zurückrechnen. Der Schröder-Gusenbauer-Tieflader wird nicht reichen, um das Schandgeld dort abzuliefern, wo es benötigt wird.

Dass der Sog dieser zutiefst kunstfernen, heuchlerischen Selbstgerechtigkeit auch Anna Netrebko, die führende Sopranistin unserer Zeit, zu erfassen droht, ist an sich zu albern, um es zu erörtern. Sie hat sich überzeugend gegen den Krieg erklärt, das hat zu genügen. Aber mittlerweile wird ihr schon angelastet, dass das Land zum 50. Geburtstag seiner bedeutendsten Künstlerin eine Feier ausgerichtet hat. Und dass es wahrhaftig Institutionen gibt, die russische Künstler pauschal aus den Verträgen werfen, ist nicht zu tolerieren, widerspricht dem Menschenverstand und jeglichem Gefühl für Gerechtigkeit. Im Grunde sind derlei Tribunale das Resultat unserer immer bildungsferneren und denunziationssüchtigeren Zeit, in der es um alles geht, nur nicht um künstlerische Qualität. Lassen Sie mich deshalb die Tatsache, dass in New York gerade der Musikdirektor der Metropolitan Opera drei Konzerte der Wiener Philharmoniker von Valery Gergiev übernommen hat, von der anderen Seite kommentieren: An Stelle eines erstklassigen Dirigenten hat ein zweitklassiger Dirigent ein erstklassiges Orchester geleitet. Und das ist, wenn schon nicht letztklassig, so doch zu bedauern.

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