Dem großen Gerhard Roth zum Gedenken

Ein Erzähler weltliterarischen Formats, ein Archivar verdrängter Wahrheiten, Ermittler und Richter in einem: Gerhard Roth ist gestorben, und die Gigantengeneration um Handke, Jelinek und Turrini ist ärmer geworden

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Der Tod und das Schreiben. Ohne diese beiden Lebenskonstanten wäre keines der Gespräche, die der große österreichische - sehr große, sehr österreichische - Erzähler Gerhard Roth mit dieser Zeitschrift geführt hat, vorstellbar gewesen. Eventuell kam als Ausreißer ins Helle der Fußball dazu, und dass sein letzte Auftritt hier die Europameisterschaft im Frühsommer des Vorjahrs betraf, ist eine heitere, tröstende Coda. Auch über Filme hätte man sich mit ihm austauschen können, wäre man nur in der Lage gewesen, seinem Fachwissen etwas Verwendbares entgegenzusetzen. Deshalb war er in der Gründungszeit unser bewunderter Gast-Cineast, und seine Kritiken wären die Publikation wert.

Aber der Tod und das Schreiben, die waren für ihn eine unteilbare Einheit. Alle seine Romane, deren beste weltliterarisches Format erreichten, waren ja auch Kriminalromane. Und sein mutmaßliches Hauptwerk trägt den Titel "Landläufiger Tod." Nur sein Umgangston mit dem dunklen Gevatter hat sich im Verlauf der vier Jahrzehnte unserer Freundschaft geändert.

Am Anfang trieb ihn die Angst vor Krankheit und Tod vor sich her. Der große, massige, damals kerngesunde Mann quälte sich aus Erfahrung. Der Vater, Landarzt, nahm den Buben nach dem Krieg zu Hamstertouren durch die Dörfer im Grazer Umland mit: medizinischer Rat gegen Eier und Rauchfleisch. Bei dieser Gelegenheit sah das Kind seine erste Tote, eine alte Bäuerin, die in der Kammer eines Gehöfts aufgebahrt lag. Und als er zwei Jahrzehnte und ein abgebrochenes Medizinstudium später die Stelle als Organisationsleiter im Grazer Rechenzentrum aufgab und in der steirischen Einschicht ansässig wurde, in der er mit seiner bewundernswerten Frau bis ans Ende lebte: Da verdiente er sich bis zur Zeit des Ruhms das Leben als Totenfotograf, dessen kundige Hand bei der Erstellung der finalen Souvenirs von der Bevölkerung sehr geschätzt wurde.

Aber als sich für den mittlerweile gefeierten Schriftsteller die Ängste konkretisierten, überkam ihn eine plötzliche, befreiende Ruhe. Zehn Jahre ist das her, da stürzte der besessene Fotograf, dessen Werk Bände und Ausstellungen füllte, während einer seiner Ausrückungen an einem eisigen Dezembermorgen über ein Schneeloch. Er wartete mit offenem Beinbruch eine Stunde lang auf Hilfe, und die folgende Embolie brachte ihn an den Rand des Todes. "Ich hatte keinen Moment Angst", schildert er das Erwachen in der Intensivstation. "Meine beiden Romanzyklen waren geschrieben. Alles andere, was nachher kam, war für mich ein Geschenk."

In der Tat wären die Zyklen "Die Archive des Schweigens" und "Orkus", 15 in den Jahren 1990 bis 2011 geschriebene Bände, für mehrere Lebenswerke gut. Er drang da, mit einem autobiographisch grundierten Personenrepertoire schuldbeladener, nach Gerechtigkeit dürstender Außenseiter, von der klaustrophobischen Enge des Dorfs bis Ägypten und zum Berg Athos vor. Er war ein großer Moralist, und die Gemeinten erkannten sich in seinen Gestalten wieder, ohne dass es einer Aufforderung bedurft hätte. Als er im Roman "Der See" einen missglückten Anschlag auf einen gewissenlos nach oben stürmenden Volksverführer schilderte, fragte Jörg Haider bei Unterrichtsminister Scholten dringlich an: Ob sich die regierungsseitig gemästeten Staatskünstler denn schon zu seiner, Haiders, Ermordung aufmachten?

Sein Stil war von eisiger Schönheit und Klarheit. In seinen Archiven war geordnet, was andere gern versteckt hätten. Er war ein von Patricia Highsmith skizzierter Ermittler, Dostojewskis Untersuchungs-und Kafkas Strafrichter in einer Person.

Nicht schreiben zu können, sagte er mir, sei ein für ihn unvorstellbarer Zustand. Also begann er, kaum, dass er die beiden Zyklen beendet hatte, den nächsten, drei Bände am Sehnsuchtsschauplatz Venedig. Als der dritte schon zur Korrekturfähigkeit gediehen war, brach er noch einmal in die geliebte Stadt auf. Dort begann vor bald drei Jahren sein Sterben. Nach einem Zusammenbruch bekämpfte man im Krankenhaus San Michele eine doppelseitige Lungenentzündung, und bei der Nachuntersuchung, schon in Österreich, wurde Magenkrebs diagnostiziert. Er habe sich nicht zu beklagen, sagte er mir, nicht in seinem Alter und nicht mit den Privilegien, die das Leben ihm geschenkt habe. Eher täten ihm die jung Verstorbenen leid, denen die Vollendung nicht vergönnt gewesen sei. Die 15 Minuten zwischen Biopsie und Diagnose im Krankenhaus hätten zur Erkenntnis gereicht, dass jeder Verzweiflungsaufwand lächerlich gewesen wäre. "Denn im Vergleich zum Gesamten ist es überhaupt nichts." Zu schreiben hat er nie aufgehört, die Apokalypse "Der Imker" ist für das Frühjahr angekündigt. Und am allerletzten Roman, der "Die Jenseitsreise" hätte heißen sollen, hat er geschrieben, bis am Dienstag dieser Woche ein Schlaganfall das Ende verfügte.

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