Elfriede Jelinek zum 75. Geburtstag

Österreichische Weltliteratur, die sich aus der Musik und dem jüdischen Wortwitz speist: Elfriede Jelinek wurde, als der Nobelpreis noch etwas zählte, zur einflussreichsten Person der Theaterwelt

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Wenn man seine professionelle Bewunderung und seine persönliche Zuneigung im Schlaf buchstabieren könnte, und wenn man beides im Wachen über vier Jahrzehnte buchstabiert hat:

Dann wird es hart mit dem Glückwünschen. Aber mich zu Elfriede Jelineks 75. Geburtstag (am 20. Oktober) nicht zu verhalten, käme der Aufforderung zur Selbstpensionierung gleich.

Zurück also zum Abend des 16.9.1979. Da wurden wir einander im Verlauf einer Solidaritätskundgebung für das freisinnige Diskussionsformat "Club 2" vom posthum leider versunkenen Großkritiker Hans Weigel vorgestellt. Den Beginn einer Freundschaft 42 Jahre später auf den Tag terminisieren zu können, ist ein zusätzlich verpflichtendes Privileg.

Fahren wir also mit dem Literaturnobelpreis fort, über den sich anno 2004 noch die halbe Welt erregen konnte. 15 Jahre später gelang das Peter Handke wieder. Aber einen seit Jahrzehnten nominierten Weltliteraten ausgezeichnet zu haben (also ihrer Aufgabe nachgekommen zu sein), bekam den wackeren Schweden gar nicht gut. Deshalb wurde schon im Jahr danach eine amerikanische Deckchenhäklerin ausgezeichnet. Der Luchterhand-Verlag hatte damals noch ein paar Restposten ihres lyrischen Werks lagernd. Wohingegen ich mich, in Ermangelung einer lieferbaren Übersetzung, mit dem Schaffen des aktuellen Laureaten Abdulrazak Gurnah in englischer Originalsprache vertraut gemacht habe. Das Resultat? Entspricht der medienübergreifend fotokopierten Kurzbiografie: "Der im heutigen Tansania geborene und in Großbritannien lebende Schriftsteller setzt sich in seinem Werk mit Migrationserfahrungen und Kolonialismus auseinander."

Genauso ist es. Der Roman "Memory of Departure" ist ein Stück starker, engagierter Prosa, aber nicht unendlich herausragender als die monothematischen Siegertitel des heurigen Bachmann-Preises. Wenigstens hat den Nobelpreis nicht Amanda Gorman für den Sozialkitsch zur Biden-Inauguration bekommen. Auch Greta Thunberg blieb für ihre gesammelten Tweets und Transparentbeschriftungen unbeteilt. Wobei mich, um Missverständnissen vorzubeugen, das außerliterarische Wirken der Damen an dieser Stelle nicht zu beschäftigen hat. Das literarische aber schon, und politisch motivierte Literaturpreiszuerkennungen sind kriminell.

Das soll eine Geburtstagskolumne für Elfriede Jelinek sein?, werden Sie jetzt einwenden. In aller Vorsicht beantworte ich die Frage mit Ja. Denn nichts anderes als eine politisch-feministische Quotenbesetzung zu sein, hat man Elfriede Jelinek vorgeworfen. Gerade so, als habe man in Stockholm kein weltpolitisch bedrängenderes Anliegen gefunden, als das Kabinett Schüssel zwo zu stürzen.

Und wie sie sich alle blamiert haben aus der nach Männerschweiß und feuilletonistischer Autoerotik stinkenden Schlurfpartie! Was sie nämlich nicht begriffen haben, ist, dass es auch den Idealfall gibt: sich auf weltliterarischer Höhe in die Zeitläufe einzumischen, wie Schiller, Heine, Byron, Freiligrath, Karl Kraus, Ernesto Cardenal es unternommen haben. Und Elfriede Jelinek, deren Werk sich aus der Musik und dem jüdischen Witz speist, ist eine österreichische politische Weltschriftstellerin, wie man sie sich suchen muss.

Der seine Funktion und sein Blatt beschmutzende "Spiegel"-Feuilletonchef Matussek war noch gar nicht versunken, da begann die von ihm Beflegelte mit der Durchsetzung ihrer Textflächen schon die Macht über das europäische Theater zu übernehmen. Das so genannte postdramatische Theater hat, auch über Jelineks Alter Ego Frank Castorf, viel Unglück über die Welt gebracht. Allerdings war es mit den Genies nie anders. Sie ziehen Legionen Drittklassiger hinter sich her, und je einflussreicher das Genie, desto gefräßiger die Epigonen.

Deshalb ist es kein Vergnügen, als Theaterkritiker beziehungsweise Juror von Literaturbewerben von Castorf-und Jelinek-Imitatoren drangsaliert zu werden. Aber atemlos hofft man dem jeweils nächsten, scheinbarer Tagesaktualität zugedachten Theatertext Elfriede Jelineks entgegen. Der Modeschöpfer Moshammer? Zwei Generationen Nazibuben am Rand des Parlamentarismus? Donald Trump? Sebastian Kurz? So schnell kann man gar nicht schauen, und man ist weg. Aber die Chance auf Fortbestand als Untoter gibt es. Karl Kraus hat diese Gnade mit vollen Händen über Hunderte ergossen. Wer "Die letzten Tage der Menschheit" kennt, weiß auch, wer der Chefredakteur Moriz Benedikt, der Gouverneur Sieghart von der Bodenkreditbank, die Salonière Flora Dub, der Kaffeehausbetreiber Riedl und der Feldgeistliche Anton Allmer verworfenen Andenkens waren. Da wird sich, man möchte darauf wetten, demnächst auch für Thomas Schmid und das Periodikum "Österreich" ein Gegengeschäft mit der Unsterblichkeit auftun.

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